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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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kommen sollte, befürchten sie, dass sie die Behörden benachrichtigen und ihren Arbeitgebern vom Emigrationswunsch ihrer Eltern berichten könnte. Ein panisches Zucken durchfährt Malwinas ganzen Körper, wenn sie die bloße Möglichkeit erwähnt, entlassen zu werden und in Ungnade zu fallen, noch bevor sie überhaupt einen Auswanderungsantrag gestellt haben. Ihr Gesicht zittert; ihre Schultern ziehen sich zusammen, und Tränen steigen in ihre Augen. Ihr Mann bedeckt ihre Hand mit seiner fleischigen Handfläche, ihre Seufzer sind die einzige Bekundung ihrer gemeinsamen Verzweiflung.
    Dann schüttelt Malwina den Kopf, als schüttle sie düstere Gedanken ab. Spiralen aus schwarzem Haar beben um ihr Gesicht; ihr schlanker Körper hat sich wacker wieder aufgerichtet. In ihrem blauen Kleid und mit dem hellen Seidenschal sieht sie wie ein exotischer Vogel aus, der auf seinem Weg zu sonnigeren Gefilden auf einem morastigen Flecken Erde gelandet ist. Roman ist groß und hat kein Ohr für andere Sprachen; sein Mund will sich partout nicht zur Bildung fremdartiger Laute verformen, weshalb er Malwina für sie beide sprechen lässt. Sie lernt für sich und ihren Mann ganze Vokabellisten auswendig, was er als Geschenk entgegennimmt, wobei er über sein mangelndes Sprachtalent lacht, mit dem verschleimten Lachen eines Kettenrauchers.
    Ich bringe ihnen bei, wie man einen Arzttermin vereinbart, eine Zugfahrt bucht, einfach oder hin und zurück, wie man einen Mantel kauft und, um ihn anzuprobieren, eine absurd höfliche Verkäuferin aus dem Kapitel »Shopping« bittet, einem eine sogenannte Umkleidekabine zu zeigen. Ich bringe ihnen alles bei, was ich weiß, alles, was sie meiner Meinung nach wissen sollten, für den Fall, dass sie Erfolg haben. Von nun an ist alles nur noch eine Frage des Zufalls: Sie können sich glücklich schätzen, falls sie ihre Arbeit nicht verlieren; falls die |291| Visaabteilung ihre Anträge bewilligt; falls ihre Tochter auf ihre Einwände gegen ihre Ausreise verzichtet, sobald sie festgestellt hat, dass einer der Vorteile, mit Verrätern verwandt zu sein, darin besteht, Päckchen aus dem Westen zu bekommen; und schließlich   – was der größte Glücksfall überhaupt wäre   – falls die Visaabteilung, nachdem sie ihre Papiere genauestens geprüft und ihnen die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt hat, ihnen tatsächlich eine Ausreisegenehmigung erteilt.
    Ich frage mich, ob Malwina und ihr Mann diesen Ort wohl mit jenem verzehrenden Heimweh vermissen würden, wie es Tanta Mila zufolge in der Seele unserer emigrierten literarischen Klassiker genagt habe. Was würden meine Schüler vermissen, wenn sie auf einem abstrakten, ausländischen Flughafen mit den zugelassenen vierzig Kilo Gepäck, die ihr Leben ausmachen, aus dem Flugzeug steigen? Würden sie nach zwei Jahren Schlangestehen vor Milizdienststellen und Visabüros, nachdem sie hier öffentlich gedemütigt und gebrandmarkt worden sind, überhaupt irgendetwas vermissen? Würden sie auf den mystischen Alleen des unergründlichen Westens je an die abgegriffenen grauen Seiten dieses auf dem mit einem Wachstuch bedeckten Tisch liegenden unsinnigen Konversationslehrbuchs zurückdenken, an dieses milchige Abendlicht   – wie es Puschkin in seinen Versen verewigte   –, das durch das offene Fenster hineinströmt? Würden sie je an mich zurückdenken?

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DIE KRIM
    Ich bin zwanzig, im dritten Studienjahr, und meine Kommilitonin Nina ist nach wie vor meine beste Freundin. Sie ist groß und sieht aus wie eine Britin oder doch so, wie wir uns eine Britin vorstellen: mit vollem, blondem Haar und Brille. Wir rauchen ungarische Mentholzigaretten und schmieden Pläne für den Sommer. Wir wagen es, über das Ferne, schier Unmögliche, den größten Traum eines jeden Urlaubsreisenden, zu fantasieren. Das Wort Krim klingt wie »Crème«   – üppig, lustvoll zergeht es auf meiner Zunge, mit einem süßen Nachgeschmack aus Dekadenz und Sehnsucht. Es ist das Gegenteil von allem, was uns vertraut ist: Dort gibt es zerklüftete Berge, eine gleißende Sonne und einen weiten Himmel, der sich bis zur Türkei erstreckt. Dort gibt es Weinberge, die einen Sekt hervorbringen, der nie in unsere Läden gelangt, und Bäume namens Magnolien, die wir aus Romanen von Somerset Maugham kennen. Es ist das Gegenteil von Leningrad   – eine neue Welt.
    Mithilfe einer Kommilitonin, die im Büro für ausländischen Reiseverkehr arbeitet und einflussreiche Beziehungen

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