Goodbye Leningrad
Prinzessin; Iwan der Dumme schnappt sich den Feuervogel; Jemelja der Faulpelz führt seinen Brüdern vor, wie man problemlos Weizen ernten kann – und zwar ohne sein Bett oben auf einem russischen Ofen zu verlassen.
Ich stelle mir die folgende Frage: Warum bekommt immer Iwan der Dumme das Königreich und nie die schlauen, gebildeten Prinzen oder die wackeren, verständigen Edelmänner? Warum ist es – entgegen den Statuten der Pioniere und den Vorschriften des Komsomol – immer der faule Jemelja, der den wundersamen Hecht fängt, und nicht einer seiner fleißigen Brüder? Ich will gerade den Mund aufmachen und Tante Mila fragen, da betritt meine Mutter in einem um ihre kräftige Mitte gegürteten Regenmantel die Küche, um uns zu |288| mahnen, wir sollten nur ja nicht an die
kotlety
rühren, die sie am Abend zuvor gebraten und, in einer Schüssel aufgestapelt, unten im Kühlschrank verwahrt habe. »Sie sind für morgen zum Abendessen«, sagt sie. »Heute müssen wir die Makkaroni im roten Topf aufessen.«
Und obwohl wir seit drei Tagen matschige Makkaroni essen und Tante Mila unser Gast ist, dem meiner Meinung nach die frisch gebratenen
kotlety
gebührten, sage ich nichts. So ist es schon immer bei uns zu Hause gewesen: Man isst zuerst das alte Essen auf, selbst auf die Gefahr hin, dass die
kotlety
inzwischen ganz fade schmecken. So ist es eben. So sind wir eben, mit unseren nie infrage gestellten Vorschriften und unserer althergebrachten Unbeweglichkeit, die so zähflüssig ist wie Leningrads Sümpfe.
Ich denke an meine Mutter, jene auf dem Porträt, das ihr Bruder vor seinem Tod malte, und frage mich, ob diese Person mit dem spöttischen Lächeln, meine junge Mutter, sich wegen eines Brottellers beschwert oder darauf bestanden hätte, dass die alten Makkaroni zuerst aufgegessen werden. Ihren aufgeworfenen Lippen und leuchtenden Augen nach zu urteilen, die dem Porträt einen seltsamen Glanz verleihen, glaube ich nicht, dass sie das getan hätte. Was aber hat dieses Lächeln von ihrem Gesicht gewischt und das Leuchten in ihren Augen gedämpft? War es der Krieg, die unberechenbaren Ehemänner, die beiden toten Brüder? Oder geschah es später, als mein Vater krank wurde und eigentlich ins Krankenhaus gehört hätte und nicht stationär aufgenommen wurde? Meine Mutter klopfte an die Tür jedes einzelnen Leningrader Parteichefs, bis einer schließlich die Order erteilte, ihn eine Woche lang aufzunehmen. Ein spezielles
ukas
, ein persönliches Dekret für ein besonderes Parteimitglied.
Wie empört muss meine Mutter an jenem Sommertag vor zehn Jahren gewesen sein, wie machtlos und gedemütigt muss |289| sie sich gefühlt haben. Dennoch forderte und drängte und kämpfte sie in der für sie so typischen Art – der einzigen, die ihrer Erfahrung nach irgendetwas in unserem Land zu bewirken vermochte. »Von einem lausigen Schaf zumindest ein Büschel Wolle«, sagte sie mit einem bitteren Lächeln, als sie uns die Krankenhausgeschichte erzählte. Warum also schweigt sie nach wie vor, wenn Marina das Kulturministerium verflucht, das ein weiteres umstrittenes Stück abgesetzt hat, oder wenn ich mich über die absurden Themen in unserem Lehrbuch mit dem Titel ›English Conversation‹ lustig mache? Warum verteidigt sie die Partei, die sie verraten hat?
Mir ist nicht länger danach zumute, Tante Mila nach unseren Märchenfiguren zu fragen. Im Grunde genommen bin ich genauso träge wie Jemelja der Faulpelz. Ich tue nur so, wie alle anderen auch; ich konfrontiere niemanden mit irgendwelchen Fragen. Weil ich den Mund halte, horte ich meine privat verdienten Rubel und lerne nach Belieben Englisch. Weil ich die alten Makkaroni zuerst aufesse, bekomme ich am nächsten Tag die Fleisch-
kotlety
zu essen. Als ich höre, wie meine Mutter zur Arbeit aufbricht, erstarrt daher die Frage nach den einfältigen und faulen Figuren, die für ihre Dummheit und Trägheit noch belohnt werden, auf meiner Zunge und sinkt in meine Kehle zurück.
Wenn meine Dienstagsschüler zum Unterricht kommen, geht Tante Mila spazieren. Es ist ein Ehepaar, Roman und Malwina, beides Ärzte. Von meinen sechs Privatschülern sind sie die Einzigen, die lieber zu mir nach Hause kommen, denn sie sind Juden und lernen Englisch in der Hoffnung, eines Tages emigrieren zu dürfen. Auf keinen Fall dürfte ihre neunundzwanzigjährige Tochter in unsere Englischstunde platzen und merken, mit welch subversiven Gedanken sie sich tragen; falls es dazu |290|
Weitere Kostenlose Bücher