Goodbye Leningrad
sogenannten Artischocken und sogenannten Shrimps wählen müsste? Wenn ich in irgendeine Buchhandlung gehen und auf deren Regalen ganz gleich welches Buch – ganz gleich welchen Titel man aus dem Gedächtnis hervorkramen würde – finden könnte, selbst Erzählungen von Nabokov oder Gedichte von Mandelstam, sogar Puschkins Band mit schamlosen Gedichten?
Tante Mila lässt sich von meinen Fragen nicht beirren. Daher komme der Begriff »Heimweh«, beteuert sie. Auf seine Heimat zurückzublicken. Auf jene Birken und Bauernkaten zurückzublicken, sie in Geschichten heraufzubeschwören, die Schüler ein Jahrhundert später im Literaturunterricht auswendig lernen müssten. Zurückzublicken und sich an Dinge zu erinnern, die einem einst unbedeutend und nichtig vorkamen: etwa an eine Rauchfahne, die sich aus einem Kamin zum frostigen Himmel emporwindet, oder an die Gestalt deiner Mutter, die auf dem Weg zur Datscha immer größer wird, bis du dein Gesicht in ihrem weichen, unter einem mit roten Äpfeln bedruckten Polyesterkleid verborgenen Bauch vergräbst.
Obwohl eine feste Anstellung nach wie vor Voraussetzung für den Besuch der Universität ist, brauche ich mich nicht nach einer solchen umzusehen. Meine Freundin Nina hat uns die nötigen Papiere besorgt, die fälschlicherweise bescheinigen, dass wir beide eine Arbeit haben. Dank ihres familiären Hintergrunds kennt Nina Übersetzer vom Schriftstellerverband, eine der wenigen sowjetischen Organisationen, die mit dem |286| Begriff »privat« vertraut sind. Seine Mitglieder sind offiziell befugt, Privatsekretäre zu beschäftigen, und Nina hat mithilfe ihrer Mutter zwei Mitglieder des Schriftstellerverbandes ausfindig gemacht, die bereit waren, die beiden fingierten Schreiben aufzusetzen.
Dank dieses Arrangements kann ich spät aufstehen, mit Tante Mila in der Küche sitzen, den dünnen Kaffee meiner Mutter trinken und über Theater und Bücher reden. Mit eleganter Handbewegung – ich bin mir nicht ganz sicher, weshalb sie so elegant wirkt, aber sie ist das genaue Gegenteil der ausholenden, gebieterischen Geste meiner Mutter – nimmt Tante Mila eine Scheibe Brot aus dem Korb mitten auf dem Tisch und blickt, während sie das Brot wie ein zerbrechliches Kunstwerk zwischen den Fingern hält, suchend um sich.
»Galotschka«, sagt sie zu meiner Mutter, die den Hüttenkäse in ihrer Schale mit Milch übergießt, »dürfte ich wohl einen kleinen Teller haben?«
Meine Mutter, die nicht begreift, warum man für eine Scheibe trockenes Brot einen Teller vergeuden sollte, bleibt vor dem Schrank stehen und holt eine Untertasse daraus hervor. Ich weiß, was sie denkt: Ein weiteres Geschirrstück, das abgespült werden muss. Ihre Augenbrauen ziehen sich ein wenig zusammen, derselbe Gesichtsausdruck, den ich tagtäglich sehe, wenn Tante Mila sich im Bad einsperrt und das Wasser mindestens eine Stunde lang laufen lässt – jedenfalls kommt es meiner Mutter so vor.
»Hört euch nur Mila an«, sagt sie vorwurfsvoll, weshalb ihre Stimme metallisch und schrill klingt, »planscht wie eine Ente.« Meine Mutter sagt das nicht etwa, weil sie das Bad selbst benutzen möchte, sondern weil Tante Mila etwas macht, das in ihren Augen dekadent und unnötig ist. Jeden Tag ein Bad und jetzt auch noch einen Teller für eine Scheibe Brot.
|287| Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich einen Sinn darin erkenne, das Brot auf einen Extrateller zu legen, wenn ich es ganz einfach an meine Tasse lehnen kann, aber wenn Tante Mila so etwas macht, wird es schon einen geben. Sie wird wahrscheinlich in ihrem Zimmer in Minsk einen ganzen Stapel Teller haben, für all das Essen, das sie in ihrem Nachttisch aufbewahrt.
Wenn sie nicht gerade über ›Krieg und Frieden‹ oder ›Eugen Onegin‹ spricht, dann spricht sie über Märchen. Sie arbeitet nach wie vor gelegentlich für das Minsker Radio, wo sie Programme für Kinder leitet; sie hat Geschichten über die Froschprinzessin und Iwan den Dummen aufgezeichnet und erst kürzlich das Märchen von Jemelja dem Faulpelz fertiggestellt. Während Tante Mila den Reichtum der russischen Folklore preist, beschleicht mich eine Frage und wartet darauf, dass Milas melodiöse Stimme innehält. In unseren Volksmärchen gibt es eine ganze Brigade von Charakteren, die unfähig, krank, hässlich, dumm, bucklig oder irgendwie sonst gehandicapt sind. Dabei sind sie diejenigen, die stets als Sieger aus allem hervorgehen. Ein Frosch verwandelt sich in eine
Weitere Kostenlose Bücher