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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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bekommen. Ich halte in den wenigen übersetzten Beiträgen in unserer Literaturzeitschrift ›Inostrannaja Literatura‹ immer Ausschau nach Bezeichnungen für mir bislang unbekannte Nahrungsmittel. Bei Françoise Sagan bin ich auf Austern und bei Iris Murdoch auf ein Gemüse namens Spargel gestoßen. Abgesehen von ihren Bezeichnungen weiß ich allerdings nicht, wie sie aussehen, geschweige denn, wie sie schmecken. Ist Spargel mit Spinat verwandt, wo doch beide dunkelgrün sind und denselben Zischlaut aufweisen? Schon das Wort »Spargel« klingt so dekadent wie »Ananas« und »Wachtel« aus einem Gedicht von Majakowski, beides wahrhaft unsozialistische Nahrungsmittel, die im Jahr 1917 zusammen mit dem Zaren abgeschafft wurden. Wie kann man nur Austern, was auch immer das sein mag, roh essen? Der Leningrader Laden namens
Okean
hilft einem nicht recht weiter. Er ist so groß und genauso furchterregend wie ein richtiger Ozean, mit seinen Vitrinen voller Konservendosen mit Sardinen in Tomatensauce und den in riesige Eisblöcke eingefrorenen Stinten, die von Verkäuferinnen in weißen Kitteln auf den nassen, leeren Ladentischen mit Brecheisen zertrümmert werden.
    |296| Nina und ich hatten eigentlich vorgehabt, uns im Dorf bei einer Babuschka einzumieten, für einen Rubel pro Tag, in einer Kammer mit Betonboden und zwei staubigen Matratzen, einem Gemeinschafts-Plumpsklo, mit Hühnern, die im Hof der Eigentümerin gackern. Das, was wir in dieser Bucht vorfinden, eröffnet uns jedoch eine ganz unerwartete Möglichkeit: Wir können am Strand übernachten, so nah am Meer, wie es sich keine Babuschka auch nur im Traum vorstellen kann, die nach Seetang und Kiefern duftende Luft einatmen und unsere Rubel für aufregendere Dinge ausgeben. Außerdem haben wir dank Ninas Bruder, der mit Vorliebe zeltet, in unseren Rucksäcken zwei kleine aufgerollte Luftmatratzen dabei.
    Als gegen neun das Meer und die Klippen und die Kiefern, die sich den Hang bis zur asphaltierten Straße hinaufziehen, auf einen Schlag von der pechschwarzen südlichen Finsternis verschlungen werden, liegen Nina und ich reglos da und spitzen bei jedem Rascheln oder Knacken die Ohren, wie gelähmt vor Angst, dass jemand aus der Gruppe, in deren Revier wir eingedrungen sind, sich womöglich heranschleichen und uns aus dem Weg schaffen könnte. Vor lauter Spähen in die Dunkelheit sind meine Augen dermaßen überanstrengt, dass sie schließlich zufallen und ich nicht einmal merke, wie ich einschlafe, da es jenseits meiner Lider so undurchdringlich schwarz ist wie diesseits.
    Der Morgen ist so hell wie die Nacht dunkel war, und ich stürze mich, noch immer am Leben, ins Meer und lasse meinen Körper in dem kühlen, salzigen Wasser treiben. Ich starre in den blassblauen Himmel, während das Wasser um meine Augen herum plätschert, grünes Wasser mit gelbem Sand auf dem Grund, der, sobald ich den Kopf drehe, in graue Kiesel übergeht, dann in braune Klippen und dann wieder in einen blassblauen Himmel. Grünes Wasser, klar und funkelnd, so |297| einladend und so tief. Ich begreife allmählich, warum meine provinzielle Tante Musa, die nur ein einziges Mal auf der Krim gewesen ist, immer voller Ehrfurcht vom Meer gesprochen hat   – Meer mit einem großen M.
    Das Meer ist hier das Zentrum, und alles Übrige, auch die Menschen, richtet sich nach dem Meer. Die Bewohner der Bucht unserer Wahl, junge Ingenieure aus Kiew, sind geradezu Strand-Veteranen: Seit drei Jahren kommen sie im August hierher und ergreifen mit ihrem Campingkocher, ihrem Dosenfleisch und ihren Tütensuppen, mit ihren Decken und Gitarren von der Bucht Besitz. Sie lösen Muscheln von den Felsen, spülen ihre Blechschüsseln im Meerwasser, locken Krabben mit Essensresten aus ihren Verstecken, waten bis zur Taille ins Wasser und waschen ihr Haar mit brauner Waschseife, der einzigen Seife, die in diesem Wasser schäumt. Den ganzen Tag lang sitzen sie in Badehosen da, rauchen und trinken, während sich die Haut auf ihren Nasen und Rücken pellt.
    Es dauert einen Tag, bis unsere Lager miteinander verschmelzen. Es dauert zwei weitere Tage, bis mir Boris, der Älteste der Gruppe aus Kiew, auffällt, dessen Haare und Augenbrauen dermaßen blond und von der Sonne so ausgebleicht sind, dass sie beinahe weiß wirken. Oder vielmehr falle ich Boris auf, worauf er mir ebenfalls auffällt.
     

    »Er hat eine andere Blutgruppe«, sagt Nina. Wir sind an der Reihe mit dem Küchendienst, und während wir Kartoffeln

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