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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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schälen und in der sanften Dünung wässern, unterhalten wir uns über Boris.
    |298| Ich weiß genau, was sie meint, und ich weiß, dass sie recht hat. Eine andere Blutgruppe hat jemand, der Bulgakows offiziell vor zwei Jahren veröffentlichten Roman ›Der Meister und Margarita‹ nicht gelesen hat und ein Fußballspiel einem Film von Tarkowski vorzieht. Unsere neuen Freunde aus Kiew scheinen allesamt in diese Kategorie zu fallen, in der Fußball mehr zählt als Avantgarde-Kino. Eine andere Blutgruppe hat derjenige, der Michail Baryschnikow für einen Verräter und Feind des Mutterlandes hält, nachdem dieser sich auf einer Tournee des Kirow-Balletts in den Westen abgesetzt hat. Als meine Schwester den anprangernden Artikel in der ›Prawda‹ las, sagte sie nur:
Molodez
– gut gemacht. Meine Mutter sagte nichts. Nina sagte, das hätte er schon längst machen sollen. Die Ingenieure aus Kiew begegnen dem Thema mit verächtlichem Schweigen und starren auf die plätschernden grünen Wellen oder wenden sich dringenderen Dingen zu, wie etwa Sand und Kieselsteine aus ihren Badehosen und Handtüchern zu schütteln.
    Aber es schmeichelt mir, dass Boris in die Tiefe des Meeres taucht, um mir Schneckenhörner und die Hälse von zweitausend Jahre alten Amphoren zu bringen, die eigentlich in Museen und nicht in die Taschen meines Rucksacks gehören. Es schmeichelt mir, dass er gerade mich zum Schnorcheln an den Klippen mitnimmt und nicht Natascha mit den Locken aus seiner Kiewer Gruppe, die eine Zigarette nach der anderen raucht, seufzt und so tut, als würde sie nicht in seine Richtung blicken.
    Die Wahrheit ist, dass ich mich allen Unterschieden zum Trotz zu Boris hingezogen fühle, zu seinen blauen Augen und stählernen Armen und kräftigen Beinen, die mit sonnengebleichten Haaren bewachsen sind. Er ist sechs Jahre älter als ich und ganz anders als der wohlerzogene Witali in Leningrad, dessen Dissertation im Fach Psychologie ich im April für sechzig |299| Rubel getippt habe. Witali drückte meine Hand zwischen seinen feuchten Handflächen, brachte mir unbeholfen Rosen mit und sprach mit der gedämpften, zögerlichen Stimme eines unerfahrenen Dozenten.
    Boris’ Art zu reden ist alles andere als zögerlich: Die Wörter rattern schnell und deutlich aus seinem Mund, geschliffen von einem leichten ukrainischen Akzent, der für meine nordischen Ohren ganz fremd klingt.
    Bei unseren Gesprächen sind wir irgendwie beim Großen Vaterländischen Krieg gelandet, und in dem Punkt ist Boris unnachgiebig. Er spricht über Kiew, das im Gegensatz zu Leningrad tatsächlich besetzt wurde.
    »Die sind dort einfach einmarschiert«, bricht es aus ihm hervor, wobei er, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, mit dem Handballen auf einen Felsen schlägt. Er erzählt uns von Babi Jar, einer Schlucht nahe Kiew, in der die Deutschen mithilfe der örtlichen Polizei dreiunddreißigtausend Juden hingerichtet haben. »Sie sollten zu Fuß hingehen und sind auch wirklich hingegangen, wie Schafe«, sagt er. »Die ganze Strecke zu ihren eigenen Gräbern.«
    Nina schüttelt den Kopf und beginnt, die Schüsseln einzusammeln. Ihre Kinderstube zwingt sie dazu, vernünftig zu sein und zu schweigen, sie darf weder wütend werden noch törichte Bemerkungen verurteilen, denen zufolge die Kiewer Juden selbst schuld daran waren, dass sie in einer Schlucht erst erschossen und dann übereinandergestapelt worden sind.
    In Ermangelung einer vornehmen Herkunft verspüre ich den Drang, mich mit Boris anzulegen, dieses überhebliche Grinsen von seinen Lippen, dieses arrogante Leuchten aus seinen blauen Augen zu wischen. Am liebsten würde ich zu ihm sagen, dass das, was er da von sich gibt, genauso abgegriffen und falsch ist wie die NKW D-Anweisung , derzufolge meine |300| Mutter ihren Doktorvater bespitzeln musste, oder wie die Aussprüche meines provinziellen Onkels, der über die Juden und deren Feigheit während des Krieges wettert. Ich stelle jedoch fest, dass ich kaum etwas über Babi Jar weiß, nur das, was ich im Geschichtsbuch der zehnten Klasse gelesen habe, zwei Zeilen, die im offiziellen Jargon die Massenexekution anprangern, ohne auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass die Opfer allesamt Juden waren. Ich stelle fest, dass Boris mehr über unsere Geschichte weiß als ich, und obwohl er zweifellos eine andere Blutgruppe hat, weiß ich nicht, was schlimmer ist, seine irrigen Ansichten oder meine Unwissenheit.
    Ich weiß so vieles nicht. Ich habe zum

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