Goodbye Leningrad
hat, kaufen wir Bahnfahrkarten nach Simferopol und steigen am ersten August aus dem Zug – nachdem wir zwei Tage lang quer durchs Land, von Norden nach Süden, gerattert sind – in die staubige, suppige Wärme der Krim.
|293| Ich habe keine Ahnung, was ich mir unter diesem Wunder, der Krim, vorgestellt habe: vielleicht so etwas wie den salzigen Wind und die hell gekleidete Menge in Tschechows Erzählung »Die Dame mit dem Hündchen« oder hohe Zäune, die die hochkarätigen Datschas abriegeln, oder braune Klippen, die ins Meer hinausragen, wie ich es auf einem alten Gemälde im Russischen Museum gesehen habe.
Die echte Krim riecht nach aufgeheiztem Asphalt und warmem Apfelsaft, kurz bevor er zu gären beginnt. Durch das Gedränge bahnen wir uns einen Weg, vorbei an einem Kiosk mit Fruchtsäften in kegelförmigen Behältern und einem Ladentisch, auf dem es vor Wespen nur so wimmelt, um in einen Bus zu steigen, der uns in die Kleinstadt Sudak bringen wird, nur sieben Kilometer von unserem Reiseziel entfernt. Wir wollen in das Dorf Nowyi Swet, das übersetzt »Neue Welt« heißt. »Ob das wohl symbolisch gemeint ist?«, fragt Nina.
Der Bus holpert über eine schmale Straße, die sich durch mit braunem Gras bewachsene Felder schlängelt. Die Straße steigt an, und auf einmal erheben sich vor dem ausgeblichenen Himmel liebliche Berge. Von Sudak aus wandern wir auf einem Pfad, der sich um den Berg windet, vorbei an Büschen und niedrigen Kiefern, die sich an den steilen Abhängen festklammern. Wir gehen immer weiter, gebeugt unter der Last unserer Rucksäcke, und arbeiten uns vor durch die nach gebackener Erde duftende heiße Luft.
Und dann sehen wir es. Der Weg macht eine weitere Biegung, und da liegt mehrere Hundert Meter unter uns, smaragdgrün und unbewegt, das Meer.
»Sieh nur!«, ruft Nina, als ob ich es hätte übersehen können. Ich bleibe am Rand einer Haarnadelkurve stehen und starre wie eine von einem Scharlatan hypnotisierte Närrin, wobei ich leichtsinnig mein Leben aufs Spiel setze. Ich blinzle mehrmals, |294| doch das Meer ist nach wie vor da, ganz überraschend und real.
Das Starren ist anstrengend; mir fehlen die Worte. Ich weiß nicht, wie ich auf blaugrünes Wasser reagieren soll. Die größte Wasserfläche, die ich je gesehen habe, der Finnische Meerbusen, ist immer grau. Die Newa ist manchmal zinkfarben und manchmal kohlrabenschwarz. Der See unweit unserer Datscha ist schlammig-braun, von derselben Farbe wie sein lehmiger Grund. Jedes mir bekannte Gewässer ist einfarbig, von einer Tönung, wie man sie von den Sepiafotos in unserem Familienalbum kennt. Das Wasser hat wie die Erde keine eigentliche Farbe.
Dieses hier ist jedoch irrsinnig hell, was so bizarr ist, als färbte sich der Erdboden plötzlich purpurrot oder die Kiefernnadeln neonblau. Es gleicht einem gewaltigen Bühnenbild, das sich bis zur Türkei hin erstreckt.
Auf einmal haben wir das Gefühl, als könnten wir keinen weiteren Schritt mehr weitergehen. Das Meer liegt uns praktisch zu Füßen, deshalb schlagen wir einen Pfad ein, der im spärlichen, zwischen den gelben Kiefernnadeln sprießenden Gras kaum zu erkennen ist, und gleiten förmlich den Abhang hinunter, wobei uns allein das Gegengewicht unserer Rucksäcke vom freien Fall abhält.
Der Pfad endet auf dem steinigen Strand einer kleinen, von Klippen umschlossenen Bucht. Von Nahem, aus einer Entfernung von fünf Metern, der Breite des Strandes, wirkt das Meer ganz anders: Es bewegt sich und macht Geräusche, wenn es in trägen kleinen Wellen gegen die Felsen schlägt. Es ist eben doch nur Wasser, so salzig und warm wie Suppe.
Ich ziehe meine nass geschwitzten Schuhe aus, wate hinein und lasse das Meer um meine Knöchel spielen, das blaugrüne Meer, erfrischend und ganz mein. Nun ja, nicht ganz: Eine |295| Gruppe junger Leute hockt um einen kleinen Campingkocher, sie klauben schwarze Muscheln aus einem Topf und werfen uns unfreundliche Blicke zu, als hätten wir unrechtmäßig ihren Hof betreten. Anscheinend beanspruchen sie jenen Teil des Strandes für sich, der im Schatten der braunen Klippen liegt, wo Rucksäcke und zusammengelegte Decken einen Haufen bilden. Dabei gibt es nun, da die Sonne direkt über unseren Köpfen hitzig pulsiert, kaum noch nennenswerten Schatten.
Ich frage mich, ob es sich bei den schwarzen Muscheln, die sie aus dem Topf klauben, um
midiji
– Miesmuscheln – handelt, jene exotischen Muscheln, die die Menschen im Norden nie zu sehen
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