Goodbye Leningrad
Fäustlinge, um meine Finger zu wärmen, in Wahrheit aber, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Ich stehe unter einem riesigen Eiszapfen, der von einem Fensterbrett direkt über meinem Kopf herabhängt, und denke über Roberts Heiratsantrag nach, doch anstatt einer angemessenen Antwort entspinnt sich in meinem Geist eine ganze Reihe bitterer Fragen. Warum brauchst du mich dann überhaupt noch, würde ich ihn gern fragen. Du hast doch schon jemanden, der dein Russisch korrigieren kann. Können wir nicht wenigstens vorübergehend so tun, als würden wir richtig heiraten?
Ich kann mich gut verstellen, würde ich gern sagen, und bin bereit, so zu tun, als wären wir ein Paar. Ich bin bereit, so zu tun, als würde ich Robert genauso sehr lieben wie einst Boris von der Krim, wie einst Slawa aus dem Theater meiner Schwester. Ich bin bereit, so zu tun, als würde ich Robert so sehr lieben, wie es nötig ist.
Ich sage jedoch nichts. Ich möchte nicht preisgeben, was mir |356| durch den Kopf geht. Es ist eine Gewohnheit von klein auf, ein Tribut an Großmutters Worte: An das, was in dir ist, kann niemand rühren.
»Ich verstehe«, sage ich – obwohl das nicht stimmt – und hake mich bei Robert ein. Dann stoße ich noch ein schüchternes »Danke« hervor, das in einer kleinen Wolke aus gefrorenem Atem in der Luft schwebt.
In unserer Wohnung verkündet Robert bei Marinas
schtschi
und den Hackfleischbällchen mit Buchweizen, dass wir beschlossen hätten zu heiraten. Die Luft in unserer Küche scheint zu Blei verhärtet, während ich aus Angst vor der Reaktion meiner Mutter auf meinen Teller stiere. Es fühlt sich so an, als erlebten wir die stumme Schlussszene von Gogols ›Revisor‹, deshalb blicke ich schließlich auf und äußere die Worte »Gogols stumme Szene«, eine idiotische Bemerkung, die, ohne auch nur irgendetwas zu erklären, in der bleiernen Luft hängen bleibt.
Marina steht auf und spült ihren Teller unter dem Wasserhahn. Ich weiß, dass sie wie Nina rein theoretisch der Ansicht ist, dass man in das erstbeste Flugzeug steigen sollte, das einen aus diesem Land bringt, aber im echten Leben sind die Dinge nun mal nicht so einfach. Im echten Leben sitzt meine Mutter mit zusammengezogenen Brauen und Augen wie zersprungenes Glas erstarrt vor einem Teller Buchweizen. Vielleicht hatte sie ja darauf gehofft, dass ich all die erworbene philologische Dekadenz abschütteln und zu meinem ureigenen Russischsein zurückfinden würde, wenn sich die Dinge zuspitzen, wenn mir etwa ein Amerikaner einen Heiratsantrag machen würde. Vielleicht hoffte sie noch immer, dass ich ganz normal war.
Robert sieht mich fragend an, und ich blicke zu Marina, die passenderweise nach unten starrt und ihren Teller schrubbt.
|357| »Warte«, sagt meine Mutter, während ihr Gesicht auf einmal gealtert wirkt. »Was heißt das, ihr wollt heiraten?«
Ich weiß nicht, was ich auf ihre Frage antworten soll. »Das heißt, wir müssen den Hochzeitspalast, den zentralen an der Newa, aufsuchen und uns über die Vorgehensweise informieren«, sage ich und ergreife dankbar eine Möglichkeit, zu der üblichen bürokratischen Vorgehensweise überzugehen. »Morgen ist Mittwoch, also gehen wir morgen hin. Alles ist in Ordnung«, setze ich hinzu, ein Hinweis an Marina, sich ihre Bühnenstimme zu sparen, ein Hinweis an meine Mutter, dass meine Entscheidung feststeht.
»Und wann habt ihr vor … zu heiraten?«, fragt meine Mutter, wobei sie vor den beiden letzten Worten innehält, als sei ihr Mund außerstande, sie zu formen.
Diese direkt an mich gerichteten Worte klingen für mich befremdlich. Ich bin vierundzwanzig, und abgesehen von Robert hat noch niemand je daran gedacht, mich zu heiraten. Dabei sind weder mein fortgeschrittenes Alter noch meine Befürchtungen, wie Marina allein zu bleiben, der eigentliche Grund dafür, dass ich auf Roberts Angebot eingegangen bin.
Es fühlt sich an wie eine Offenbarung, dabei habe ich es in meinem tiefsten Inneren, wo vertraute Dinge auf den Prüfstand kommen, schon immer gewusst. Ich möchte dieses Land verlassen, das, wie mir allmählich dämmert, meiner Mutter so ähnlich ist. Meine Mutter und mein Mutterland sind beinahe gleich alt. Sie sind alle beide in die Ordnung vernarrt, alle beide herrisch und wachsam. Sie sind prosaisch; weder meine Mutter noch mein Mutterland hat auch nur die geringste Ahnung von den wichtigen Dingen im Leben: von der Magie des Theaters, der Macht der englischen Sprache, der
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