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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Liebe. Beide sind wie das Innere eines Busses zur Stoßzeit im Juli: Man kann nicht atmen, sich nicht rühren, sich keinen Weg nach draußen bahnen.
    |358| Von seinem Ehrenplatz am Tischende richtet Robert ein beklommenes, bedauerndes Lächeln an meine Mutter, als entschuldige er sich für sein Vorhaben, mich auf die andere Seite des Erdballs zu entführen, an einen Ort, der so fern ist, dass der bloße Gedanke daran ihre Augen mit Tränen füllt, so dass sie blinzeln muss.
     
    Tags darauf gehen wir entgegen meiner Absicht nicht zum Hochzeitspalast. Unser Oberster Sowjet verkündet, er habe Truppen nach Afghanistan entsandt, um dem Land dabei behilflich zu sein, sich von den Atavismen des Kapitalismus zu befreien. Die Titelseiten der ›Prawda‹ und der ›Iswestija‹ sind von dieser Nachricht bestimmt; in langatmigen Artikeln mit fett gedruckten Überschriften wird erläutert, dass Afghanistan, falls wir dort nicht einmarschierten, von den kriegshungrigen Vereinigten Staaten verschlungen werden würde. »
Tschorni pauk
– wie eine blutrünstige schwarze Spinne«, liest Robert in einer ›Prawda‹ auf dem Küchentisch, »halten die USA ständig Ausschau nach neuen Möglichkeiten, um den Sozialismus zu ersticken und die Welt in die dunkle, rückschrittliche, vorrevolutionäre Vergangenheit zurückzustoßen.«
    »Von den Vereinigten Staaten verschlungen?«, fragt Robert mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich bin in Afghanistan gewesen; es gibt dort nichts, was man verschlingen könnte.«
    Wir ziehen durch das Stadtzentrum auf der Suche nach einer englischsprachigen Zeitung, um zu erfahren, was tatsächlich los ist. In der Lobby des Hotels
Europa
am Newski-Prospekt, in die ich mich in Roberts Schlepptau schleiche, während ein Portier einen parkenden BMW bestaunt, entdecken wir den von der Kommunistischen Partei Großbritanniens veröffentlichten ›Morning Star‹ und die von der Kommunistischen Partei der USA publizierte ›Daily World‹. »Diese Blätter habe ich |359| noch nie gesehen«, sagt Robert. »Weder in Amerika noch in England.« Er kauft sie jedoch nicht, nicht einmal aus Neugier. Er wolle die tatsächlichen Nachrichten lesen, sagt er. Er wolle
prawda
, die Wahrheit, erfahren, wobei die ›Prawda‹, die überall in Stapeln liegt, der letzte Ort ist, an dem sie anzutreffen ist.
    Wir durchwühlen einen Haufen Zeitungen in polnischer, bulgarischer, serbokroatischer, italienischer und französischer Sprache, bis Robert etwas in schwankenden Zeilen auf rosa Papier Gedrucktes hervorzieht, die indische ›Financial Times‹. Wir blättern hastig durch die Seiten mit dem unruhigen Schriftbild, das mir sogleich Kopfschmerzen bereitet, auf der Suche nach einer Erwähnung des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan, bis ich mit einem Blick auf das Datum feststellen muss, dass die Zeitung eine Woche alt ist.
    Ich wünschte, ich könnte Robert gegen die Bombardierung durch all das Geschwätz auf den beiden Fernsehkanälen abschirmen, der von Nachrichtensprechern in ernstem Ton und mit nachdenklichem Blick verzapft wird. Ich bin immun gegen die Leitartikel der ›Prawda‹, nachdem ich bereits im Kindergarten dank Tante Polja gegen die offizielle Linie geimpft worden bin. Ich schenke der düsteren, monotonen Stimme im Fernsehprogramm ›Wremja‹, das meine Mutter um Punkt neun einschaltet, bevor sie zu Bett geht, keinerlei Beachtung. Ich lasse die körnigen Filmausschnitte von Militärparaden, die marschierenden Soldaten und im Wind flatternden Spruchbänder, die unseren patriotischen Eifer entfachen sollen, einfach links liegen. Die einzige Frage, die mich augenblicklich beschäftigt, lautet, in welcher Weise sich diese neue internationale Entwicklung auf die Bestimmungen für die Heirat mit Ausländern, auf meine künftigen Aussichten auf ein Visum sowie auf den Aeroflot-Flugplan zwischen Leningrad und New York auswirken wird.
     
    |360| Ich lasse Robert im Russischen Museum zurück und begebe mich ins Büro für Eheschließungen mit Ausländern, um herauszufinden, welche Unterlagen erforderlich sind. Meine Mutter begleitet mich, um mir, wie sie sagt, im Umgang mit den starrköpfigen Paragraphenreitern Beistand zu leisten, was mir nur recht ist. Sie hat eine eigene Rechnung mit der Bürokratie zu begleichen. Zehn Jahre zuvor wurde ihr seitens der Medizinischen Hochschule eine Gruppe ungarischer Studenten anvertraut, die die meisten Wochenenden ihres Studienjahres in unserer Küche zubrachten, beschäftigt mit der

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