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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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jedoch nicht etwa den möglichen Gefahren der Straße. Wir haben soeben unter einem dunklen Torbogen eine Tür entdeckt, eine mit rissigem schwarzem Wachstuch bezogene rechteckige Holzplatte, die nicht einmal Genka zu berühren wagt.
    Ich vermute, dass dort eine gelähmte Frau haust. Ich stelle sie mir ganz reglos und runzelig in ihrem Bett vor, aber immer noch böse, wie eine alte Hexe mit langer Nase aus einem Märchen der Gebrüder Grimm oder wie die Baba Jaga aus unseren Märchen, die in einer Hütte auf Hühnerbeinen lebt.
    Genka sagt, eine gelähmte Frau sei viel zu harmlos, um an einem solchen Ort zu leben, hinter der Tür müsse ein viel grausigeres Gebrechen lauern, etwa ein taubes Kind oder irgendein Buckliger.
    Oder der Müllmann, sage ich, und da verstummen wir beide. Wir stehen erstarrt, wie versteinert da. Der Müllmann ist tatsächlich dermaßen furchterregend   – am furchterregendsten von allen, denn es gibt ihn wirklich   –, dass man sich gut vorstellen kann, wie er in diesem dunklen Tunnel haust, von dessen glitschigen Steinwänden die Feuchtigkeit herabperlt.
    Er arbeitet im Keller auf der anderen Seite des Spielplatzes, wo er den unsortierten Abfall, der durch Schächte aus den einzelnen Wohnungen herabfällt, zusammenschaufelt. Der Gestank von verrottendem Müll dringt unter der Kellertür hindurch nach draußen und steigt die sechs Betonstufen hoch bis zum Bürgersteig. Hin und wieder erklimmt der Müllmann |41| die Treppe und kauert sich, immer mit dem Rücken zur Sonne, auf den Sims. Wie ein Gnom, mit schwarzen Bartstoppeln, die aus seinen Wangen sprießen, und einer Nase wie einer verschrumpelten Kartoffel, raucht er selbst gedrehte Zigaretten, die er zwischen seinen krummen Fingern knautscht, bevor er sie anzündet. Seine Kleidung ist derart schmutzig und riecht dermaßen nach Müll, dass sein Gestank noch in der Luft hängt, wenn er schon längst fort ist. Ich habe mir immer vorgestellt, dass er im Keller schläft, irgendwo in einer kleinen Nische, die er in seinem unterirdischen Meer aus sich zersetzendem Abfall von Kartoffelschalen und Fischgräten frei geräumt hat.
    Während wir gebannt vor dieser schwarzen Tür stehen, wird uns beiden jedoch klar, dass der Müllmann
hier
wohnen muss, mitten in diesem feuchten Tunnel, im Angesicht der Finsternis, wo wir nicht länger vom Sonnenlicht oder von Sinaida Wassiljewna oder selbst der keifenden Tante Polja beschützt werden.
    Als mein Herzschlag bei diesem entsetzlichen Gedanken ins Stocken gerät, knarrt die Tür, und das Wachstuch beginnt sich ganz langsam von der Steineinfassung zu lösen, woraufhin Genka einen Laut von sich gibt, als würde er an einem Knochen ersticken. Seine Augen sind zwei schwarze O’s, und wir rennen, so schnell wir nur können, aus dem Tunnel, ins Tageslicht des Spielplatzes und in die Arme unserer Kindergärtnerin Sinaida Wassiljewna.
    Sie fordert uns auf, uns vor sie hinzustellen, dabei Haltung anzunehmen und zu erläutern, warum wir so besonders seien, dass wir meinten, einfach unserer Wege gehen zu dürfen. »Was unterscheidet euch von allen anderen«, fragt sie, »vom Rest unseres Kollektivs, von denen, die nicht herumlaufen und auf Ärger aus sind? Was unterscheidet euch von denen, die sich zufrieden im Sandkasten beschäftigen?«
    |42| Als alle anderen in die Waschräume gescheucht werden, um sich auf Nachttöpfe aus Zinn zu hocken, stehen Genka und ich in entgegengesetzten Ecken des Raumes. Wir sollen in die Ecke schauen, deshalb sehe ich nur eine Stelle, wo die Wandfarbe abblättert. Ich wünschte, ich könnte mit Genka reden und ihn fragen, ob er irgendetwas durch den Spalt in der Tür gesehen hat, irgendeinen Hinweis auf den Müllmann   – einen knochigen Finger oder einen Fetzen seines schmutzigen Jackenärmels   –, aber da höre ich Tante Poljas schwerfällige Schritte, und schon ertönt ihre Stimme hinter mir.
    »Ausgezeichnet, Gorokhova«, wettert sie, wobei ein Hauch von ranziger Butter in meine Ecke weht, »erst isst du deine Suppe nicht auf und dann treibst du dich auch noch herum. Deine Mutter wird sich bestimmt freuen, wenn sie das hört.«
    Wenn meine Mutter davon erfährt, würde ich mich in einer weiteren Ecke wiederfinden, diesmal neben dem Müllschacht in unserer Küche, nach einem Vortrag über die Notwendigkeit, im Gleichschritt mit dem Kollektiv zu gehen, sowie über die Gefahren des städtischen Straßenverkehrs. Meine Strafe neben dem Müllschacht »abzustehen«, wäre meiner

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