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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Straßenbahn gesetzt habe.
    Sie sei mit Absicht daraufgeklettert, wenn ein Erwachsener zugesehen habe, sagt meine Mutter, die angenommen hatte, Marina zu bestrafen. Dabei habe meine Schwester genau das beabsichtigt: schließlich in der Ecke unter dem Radio zu landen. Damals seien abends ausschließlich Hörspiele gesendet worden. Sie habe stundenlang reglos dagestanden, wie ein Totempfahl. Meine Mutter konnte sie kaum zum Abendessen loseisen. Und jetzt hätten wir den Salat   – sie wolle Schauspielerin werden.
    |48| Ich empfinde neuen Respekt für Marina, für ihren beneidenswerten, waghalsigen Plan, vor den Augen der Erwachsenen, die die begehrte Strafe verhängen würden, einfach hinten auf die Straßenbahn zu klettern. Ich male mir aus, wie sie unter einem altmodischen Radio mit Wollbespannung an der Vorderseite steht, den Stimmen der Schauspieler lauscht und sich ausmalt, wie diese auf der Bühne mit Augen, die unter Schichten aus Fettschminke hervorleuchten, ewige Liebe schwören, tragische Tränen vergießen und sterben.
    Auf einmal schlägt meine Mutter einen anderen Ton an und erzählt meinem Vater, sie hätten nichts zu befürchten. Der Andrang auf die Schauspielschule sei dermaßen groß, dass es auf einen Platz hundert Bewerber gebe. »Man muss schon eine Sarah Bernhardt sein«, insistiert sie. »Man muss besondere Verbindungen haben. Man muss mit dem Kulturminister verwandt sein. Niemand wird aufgenommen«, sagt sie und knallt resolut einen Deckel auf einen Suppentopf.
     
    Bei uns zu Hause gibt es einen Hund, einen kupferfarbenen reinrassigen Irish Setter. Er gehört meiner Schwester, allerdings kann er nicht ohne die Zustimmung meiner Mutter in unsere Wohnung gelangt sein. Meine Mutter und meine Schwester bürsten ständig die langen Haare des Hundes und lassen ihn auf unserem Sessel sitzen, damit er die körnigen Bilder in unserem Fernseher betrachten kann, die hinter einer dicken, mit Wasser gefüllten Mattscheibe flimmern. Wenn der Hund auf dem Sessel hockt, setze ich mich neben ihn, und wir sehen gemeinsam den Eiskunstläufern dabei zu, wie sie über den Bildschirm gleiten.
    Der Hund heißt Major, und als die Zeit zur Paarung gekommen ist, klingelt ein Mann an unserer Tür und stellt sich vor als Iwan Sergejewitsch Parfjonow, Leiter der Leningrader Ortsgruppe |49| einer Organisation, die sich Irish Settern widmet. Iwan Sergejewitsch hat Hängebacken wie Major und ist etwa so alt wie meine Mutter. Als er unseren Flur betritt, verneigt er sich leicht, nimmt seinen Filzhut ab und hängt ihn an einen Haken gegenüber dem Kühlschrank.
    »Wem gehört der Hund?«, erkundigt er sich, während meine Mutter ihn in die Küche führt, wo sie bereits das Teewasser aufgesetzt hat.
    »Marina!«, ruft sie, worauf meine Schwester aus ihrem Zimmer, in dem sie angeblich mit Mathematikaufgaben beschäftigt war, auftaucht. Sie besucht die Abschlussklasse der weiterführenden Schule, und ihre Zukunft steht fest. Ihr wäre ein Platz sowohl an der Medizinischen Hochschule meiner Mutter als auch am Technischen Institut meines Vaters sicher. Sie braucht nicht den Sommer über für Aufnahmeprüfungen an der Uni zu büffeln oder Ende August bang vor den Namenslisten zu stehen, die an den feuchten Flurwänden der Universität hängen. Die Zukunft wird ihr, um mit meiner Mutter zu sprechen, auf einem silbernen Tablett gereicht.
    Zu Marinas Verwunderung erhebt sich Iwan Sergejewitsch von seinem Stuhl und schüttelt ihre Hand. Sie staunt noch mehr, als er sie mit dem Erwachsenen vorbehaltenen förmlichen Pronomen
wy
anspricht und nicht mit dem zwanglosen
ty
, wie es Kindern und Familienangehörigen gegenüber verwendet wird.
    Er plaudert ein wenig mit ihr über die bevorstehenden Abschlussprüfungen im Juni und fragt Marina, wo sie sich nach dem Abitur zu bewerben gedenke.
    Es ist kein Geheimnis, dass meine Schwester sich weder für Medizin noch für Technik interessiert. Wir alle wissen, dass sie dahinschmilzt, wenn sie in der Aula ihrer Schule auf der Bühne steht, ihre Stimme erhebt und ihre Seele wie verwandelt ist von |50| einer Tragik, die von Tschechow oder Gorki oder irgendeinem anderen bedeutenden Stückeschreiber, dessen Namen ich noch nicht kenne, inspiriert wurde.
    Eine Sekunde lang zögert sie, da sie nicht weiß, ob sie diesem Fremden gegenüber die Wahrheit offenbaren soll, aber Iwan Sergejewitsch spricht sie ein weiteres Mal mit
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an und lächelt so herzlich, dass sie meine Mutter verstohlen ansieht und sich

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