Goodbye Leningrad
Meinung nach ironisch, vor allem wenn man bedenkt, dass der Müllmann sich fünf Stockwerke weiter unten am anderen Ende des Schachts befindet, und wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und etwas hinunterwerfe – ganz gleich was, selbst eine leere Streichholzschachtel –, es direkt auf seinem Kopf landen und dieses Mal
ihm
Angst einjagen könnte.
Bei der Vorstellung, den Müllmann zu erschrecken, muss ich grinsen, aber ich beiße mir auf die Lippe, weil ich weiß, dass Tante Polja wünscht, dass ich bestürzt und reuevoll aussehe. Ich denke an das Schlimmste, das mir zustoßen könnte, die denkbar grausamste Strafe, der Ausfall eines sonntäglichen Spaziergangs mit meinem Vater zum Eiskiosk: der zehnminütige |43| Gang zum Theaterplatz, wo eine mürrische Frau aus der frostigen, dampfenden Tiefe eines metallenen Karrens einen Waffelbecher mit Eis namens
crème brûlée
hervorholt, das so hart ist wie Stein.
»Meine Mutter hat ein krankes Herz«, sage ich. »Wenn sie das hört, bekommt sie vielleicht einen Herzanfall.« Es ist nur halb gelogen, da ich gehört habe, wie meine Mutter sich im Aufzug einer Nachbarin gegenüber beklagt hat, ihr Herz sei nicht mehr das, was es in ihrer Jugend gewesen war.
»Das ist ja interessant«, sagt Tante Polja. Da ich noch immer an der Wand stehe, kann ich ihre Gegenwart nur anhand des Küchengeruchs und des Lufthauchs, der entsteht, wenn sie spricht, erahnen. »Du hast nicht zufällig auch an das kranke Herz deiner Mutter gedacht, als du auf die Straße gerannt bist?«
»Wir waren nicht auf der Straße«, antworte ich mit finsterer Miene. Ich sage die Wahrheit, doch Tante Polja interessiert sich nicht für die Wahrheit. Sie denkt, ich würde ihr nur widersprechen.
»Hör mir mal gut zu, Gorokhova«, keift sie mit ihrer Mittagessenstimme, »in einem Jahr kommst du in die Schule, wo man nicht so nachsichtig mit dir verfahren wird. Man wird dich mit einer
dwojka
in Betragen rauswerfen, krankes Herz hin oder her.« Ich bin alt genug, um zu wissen, dass eine
dwojka
die schlechteste Note ist, die man in der Schule bekommen kann. »Wenn du Glück hast, endest du dann als Straßenfegerin. Ich sehe dich schon vor mir, eine achtzehnjährige Halbstarke mit einem Besen.«
Ich stehe in der Ecke und male mir meine von Tante Polja so kurz und bündig geschilderte Zukunft aus und befürchte, dass in der ersten Klasse mein Lehrer, mein Direktor und all die anderen mir nicht trauen werden, weil ich so dreist war, meine |44| Interessen über die des Kollektivs zu stellen. Ich werde überall versagen: in Schönschreiben, beim Turnen, wenn ich die Hände auf dem Tisch falten, meinen weißen Kragen schrubben und auf mein Uniformkleid heften soll. Ich werde nicht zu den Pionieren zugelassen werden und kein rotes Tuch um den Hals tragen dürfen. Ich werde immer hinten in der Ecke sitzen, fernab von der Aufmerksamkeit des Lehrers, an dem Platz für diejenigen, auf die man sich nicht verlassen kann, für die mit einer
dwojka
in Betragen. Dafür würde Tante Polja schon sorgen.
Nach einer Stunde Stehen darf ich die Ecke verlassen. Als Tante Polja uns später Milch einschenkt, beobachtet sie mich genauer als sonst, um sicherzugehen, dass ich mein Brot aufesse. Ich weiß, dass sie mich beobachtet, sie weiß, dass ich es weiß, und ich weiß, dass sie weiß, dass ich es weiß. Eine Weile spielen wir dieses Spiel: Sie wirft mir einen unerwarteten Blick zu, während ich gewissenhaft kaue und so tue, als wüsste ich nicht, dass sie mir zusieht.
Das Spiel heißt
wranjo
. Meine Eltern spielen es bei der Arbeit, und meine ältere Schwester spielt es in der Schule. Wir tun alle so, als würden wir etwas machen, und diejenigen, die uns beobachten, tun so, als würden sie uns tatsächlich beobachten und wüssten nicht, dass wir nur so tun.
Das
wranjo -Spiel
, bei dem man so tut, als würde man kauen, lohnt sich. Weder Tante Polja noch Sinaida Wassiljewna erzählen meiner Mutter von meinem Hofausflug, und am Sonntag spaziere ich mit meinem Vater Hand in Hand zum Eiskiosk und zurück, während harte Klumpen
crème brûlée
ganz langsam auf meiner Zunge zergehen.
|45|
Marina
»Was willst du später mal werden, Lenotschka?«, fragt Tante Nina, die meine echte Tante ist, allerdings bloß zweiten Grades – sie ist die Kusine meiner Mutter. Wir befinden uns zu sechst in Tante Ninas Wohnung, sie hat Geburtstag. Meine Schwester Marina sitzt neben mir an dem mit Salaten, Vorspeisen und Tante Ninas
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