Goodbye Leningrad
speziellem Zwiebelkuchen gedeckten Tisch.
Meine Schwester ist siebzehn: Sie besucht die Abschlussklasse der weiterführenden Schule und schmiedet Pläne, wie sie unseren Eltern die Erlaubnis abringen kann, sich an der Schauspielschule zu bewerben.
»Ballerina«, sage ich, springe von meinem Stuhl auf und hebe mein Bein hinter dem Rücken in die Höhe.
»Setz dich«, sagt meine Mutter, »und iss deine Kartoffeln auf.«
Ich möchte keine Kartoffeln mehr. Ich spare mir Platz auf für den rosinenverzierten, zuckerbestreuten Kuchen, den ich in der Küche erspäht habe.
Ich wünschte, Tante Nina würde Marina fragen, was sie später werden möchte, denn ich weiß, würde sie die meinen Eltern bereits bekannte Wahrheit aussprechen, dann vergäßen alle meine Kartoffeln – und die der anderen, auch die gesalzenen Heringe, die Rote Beete mit Mayonnaise und die dünnen Salamischeiben, die sich am Rand zu kräuseln beginnen. Alle würden mit offenen Mündern dasitzen und sich fragen, wie eine so rechtschaffene Familie – der Vater Direktor einer Technischen Hochschule und die Mutter Anatomieprofessorin – nur etwas dermaßen Abwegiges hervorbringen konnte. Mit fünf darf man Ballerina oder Schauspielerin oder Astronautin werden wollen, aber in Marinas Alter sollte man ernsthaft sein |46| und an einen richtigen Beruf denken, wie Kindergärtnerin oder Straßenbahnfahrerin oder Ärztin, wie die Doktorin in der örtlichen Poliklinik mit dem weißen Hut über dem verdächtig blonden Haar, die zu uns nach Hause kam, als ich Grippe hatte.
»Was soll denn Schauspielerei für ein Beruf sein?«, fragt mein Vater, als wir wieder zu Hause sind. »Auf der Bühne stehen und sich lächerlich machen.
Gluposti «
, sagt er mit einer abfälligen Handbewegung – »alles dummes Zeug.«
»Es hat aber doch große Schauspieler gegeben, die von jedermann geachtet wurden«, gibt Marina zu bedenken. »Stanislawski, Nemirowitsch-Dantschenko, Michail Tschechow. Sie haben sogar Bücher geschrieben.«
»Bücher sind gut«, sagt mein Vater aus einer Rauchwolke. Er ist bei seiner zweiten Packung Belomor-Papirossy. »Aber zuerst muss man lesen und schreiben lernen. Geh auf eine Schule, wo man dir etwas Nützliches beibringt – wie man ein Flugzeug konstruiert, zum Beispiel.«
»Und was willst du dann machen?«, schaltet sich meine Mutter ein. »Dein Leben in irgendeinem Provinztheater verbringen, damit du am Ende des zweiten Aktes rauskommst und sagst: ›Das Abendbrot ist zubereitet‹? Ich werde dir bei der Suche nach Arbeit in Leningrad nicht helfen können«, warnt sie, praktisch wie immer. »Man wird dich nach Kamtschatka schicken, und dort wirst du festsitzen, mit dem Abschaum der Gesellschaft, mit Matrosen und Exhäftlingen, mit denen, die nur mit Ach und Krach einen Klempnerlehrgang schaffen, und dir wünschen, du hättest auf uns gehört.«
Meiner Mutter ist es schleierhaft, wie jemand freiwillig einer so ungeordneten und unsicheren Beschäftigung wie der Schauspielerei nachgehen möchte. Vor allem sei es keine ernstzunehmende Tätigkeit. Was lerne man schon auf der Schauspielschule, fragt sie sich. Weder Chemie noch Biologie oder |47| gar Latein. Als Schauspielerin trage man nicht zum Wohl der Gemeinschaft bei, sagt sie; man mache nichts Solides. Es sei alles nichtig und chaotisch, eine Arbeit, die eines verantwortungsbewussten Bürgers nicht würdig sei.
»Sieh dir deine Schwester Galja an«, fügt meine Mutter hinzu. Galja ist die Tochter meines Vaters, die zehn Jahre älter ist als Marina und als Pathologin im Leningrader Krankenhaus Nr. 2 arbeitet. Ich habe keine Ahnung, was eine Pathologin ist, aber es muss etwas Solides sein, da meine Mutter sie oft als Beispiel heranzieht. »Sie hat eine richtige, anständige Arbeit. Von neun bis halb sechs, sechs Tage die Woche.«
An Tagen, an denen Marina mit ihrer Schultheatergruppe probt, klappert meine Mutter mit den Tellern im Spülbecken und klagt, schuld an allem sei das Radio. Ich spitze die Ohren, fasziniert von der Vorstellung, dass das Radio mit seinem Klaviergeklimper, seiner Morgengymnastik und seinen feierlichen Drei-Uhr-Nachrichten Marina in die Schauspielfalle gelockt haben könnte.
»Es war dieses Programm«, sagt meine Mutter, »›Theater am Mikrofon‹.« Vor meiner Geburt, als sie in Iwanowo wohnten, habe Marina stundenlang in der Ecke unter dem Radio gestanden, zur Strafe dafür, dass sie sich wieder einmal rittlings auf die Stange hinten an der
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