Goodbye Leningrad
nachts an einer Bushaltestelle stehe, wenn das einzige Licht, das man sieht, das bernsteinfarbene Quadrat eines Fensters im Erdgeschoss ist und der Wind an den an den Fassaden befestigten metallenen Abflussrohren rüttelt, |366| bekomme ich es mit der Angst zu tun. Ich erschauere angesichts der Stille, angesichts der kalten, feuchten, leeren Luft, angesichts des Nichts der Nacht. Wenn das Nichts hier existiert, wo mir alles vertraut ist, was würde mich dann dort erwarten, wo mir alles fremd ist? Wo die Bushaltestellen und die Luft und die Abflussrohre und die Nacht so vollkommen anders sind, dass ich sie womöglich nicht einmal erkenne.
Ich würde gern meiner Mutter davon erzählen oder noch lieber einfach nur mein Gesicht in ihrem Busen vergraben, wie ich es vor langer Zeit getan habe, als ich mich im Wald verlaufen hatte. Aber ich bin keine zehn mehr und darf keine Schwäche zeigen und mir nicht anmerken lassen, wie sehr ich mich fürchte, vor allem nicht ihr gegenüber. Sie würde es auch mit der Angst zu tun bekommen. Für sie wäre es eine Bestätigung dessen, dass sie von Anfang an richtig lag, als sie Robert bei ihrer ersten Begegnung streng musterte, als sie wollte, dass ich mich nicht an der Philologischen Fakultät, sondern an der Medizinischen Hochschule bewerbe, als sie vor fünfzehn Jahren auf die Nachricht hin, ich wolle Englisch lernen, verächtlich die Augenbrauen hochzog.
Zwei Wochen vor Roberts Ankunft klingelt unser Telefon, und ich höre die Stimme von Boris, den ich auf der Krim kennengelernt habe. Im vergangenen Jahr haben wir nur zweimal miteinander telefoniert: Ich hatte ihn an seinem Geburtstag angerufen und er mich an meinem. Er plante, in jenem August erneut nach Nowyi Swet zu reisen, und wir schwelgten in Erinnerungen daran, wie wir am Strand Muscheln gekocht und |367| aus der Kolchose, die für den Export bestimmten Sekt herstellte, Weintrauben geklaut hatten. Wenn ich seine Stimme höre, schmelze ich nicht mehr dahin; mir ist nicht länger danach zumute, alles stehen und liegen zu lassen und zu ihm zu eilen, wo auch immer er sein mag.
Er sei in Leningrad, sagt er.
In Leningrad? Er ist noch nie nach Leningrad gekommen, weder als ich ihm ein Telegramm schickte, sobald meine Mutter die Wohnung verlassen hatte, um eine Woche bei ihrer Schwester in der Provinz zu verbringen, noch als ich einen Schaffner in Simferopol bestochen hatte, damit er einen zusätzlichen Passagier in einem Zug nach Norden mitreisen ließ. Und jetzt, wo ich ihn weder darum gebeten noch dazu überredet habe, ist er auf einmal hier.
Ob wir uns irgendwo im Stadtzentrum treffen könnten, um in ein Restaurant zu gehen?
Ich bin mir nicht sicher, was mich nervöser macht – Boris zu treffen oder in ein Restaurant zu gehen. In meinem ganzen Leben habe ich erst ein einziges Mal in einem Restaurant gegessen. Eine mürrische Kellnerin, die so aussah, als hätten Nina und ich sie persönlich beleidigt, indem wir an ihrem Tisch Platz nahmen, knallte eine zehnseitige Speisekarte auf den Tisch, mit dem Hinweis, es gebe nichts anderes als Bœuf Stroganoff. Das Fleisch war sehnig, lauwarm und teuer, und wir hatten uns geschworen, nie wieder ein Restaurant aufzusuchen. Das meinten wir natürlich nicht ernst; wir wussten beide, dass es andere, vornehmere Lokale gab, in denen tatsächlich Essen serviert wurde, bewacht von Türstehern, die sich nicht aus der Ruhe bringen ließen und selbstgefällig vor Schildern mit der Aufschrift »Keine freien Plätze« standen.
»Und, können wir uns sehen?«, fragt Boris, in dessen Stimme ein ungeduldiger Unterton mitschwingt. Vielleicht ist er ja gar |368| nicht ungeduldig; vielleicht ist er ebenfalls nervös. Schließlich bin ich diejenige, die zu Hause sitzt und deren Pass schon bald ein Heiratsstempel zieren wird, während er an der Wand irgendeiner nach Urin stinkenden Telefonzelle mit verzogenen Bodenfliesen aus Gummi lehnt.
Ich ziehe meine beiden besten Kleidungsstücke an: eine Levis-Cordhose, die mir im vergangenen Sommer ein Mädchen aus dem amerikanischen Kurs geschenkt hat, und eine Wildlederjacke, die Marina mir vor fünf Jahren von einer Theatertournee nach Riga mitgebracht hat. Eigentlich ist es für eine so leichte Jacke zu kalt, aber sie steht mir viel besser als mein wollener Wintermantel. Ich spucke in einen Behälter mit eingetrockneter Wimperntusche, die wir manchmal auch als Schuhcreme verwenden, und fahre mit einem kleinen Plastikkamm über meine Wimpern. Die
Weitere Kostenlose Bücher