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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Tusche bildet Klumpen, die ich behutsam mit einer Nähnadel zerteile und so die Wimpern voneinander trenne, damit sie so dicht und lang wie die einer Amerikanerin aussehen.
    Ich sehe Boris schon von Weitem, als ich mir einen Weg aus der Metrostation Newski-Prospekt bahne. Er steht da mit den Händen in den Jackentaschen und Augen so blau wie der Himmel über der Krim. Als er mich in der Menge entdeckt, formen sich seine Lippen zu einem Lächeln, bei dem drei Jahre zuvor mein Herz aufgehört hätte zu schlagen.
    »Als ich davon erfahren habe, bin ich gleich in den nächsten Zug gestiegen«, sagt er, fasst mich bei den Schultern und küsst mich auf die Wange. »Natascha hat mich gestern angerufen und es mir erzählt.«
    Er klingt so, als würde er über eine Katastrophe, einen schrecklichen Unfall sprechen, dessentwegen er umgehend in den Zug springen und schnellstens hierherfahren musste. »Dir was erzählt?«, frage ich.
    |369| Er sieht mich prüfend an, um sicherzugehen, dass ich mich nicht über ihn lustig mache. »Dass du einen Ausländer heiratest und fortgehst.« Seine Stimme steigt im Verlauf des Satzes an, als wäre es eine Frage. Wir gehen den Newski-Prospekt entlang, zwei winzige Flecken in dessen nachmittäglichem Gedränge, und eine Weile lang schweige ich, während ich mich durch eine Gruppe von Menschen dränge, die sich bereit macht, einen Bus zu stürmen, und die Luft erfüllt ist vom Lärm kreischender Getriebe und quietschender Bremsen. »Dass du einen Amerikaner heiratest«, sagt er, wobei sich das Wort
amerikanez
aus seinem Mund genauso zischend anhört wie aus dem meiner Mutter.
    Mir ist schleierhaft, wie Natascha aus Kiew, die einst in unserer Bucht auf der Krim Boris seufzend traurige, schmachtende Blicke zugeworfen hat, davon erfahren haben mag, dass ich Robert heiraten und fortgehen werde. Ich blicke Boris an und zucke mit den Schultern, um ihm zu verstehen zu geben, dass Natascha recht hat, dass ich tatsächlich diese Katastrophe verursacht habe, die ihn seine Ingenieurspflichten in Kiew vernachlässigen und eilends nach Leningrad fahren ließ.
    Wir gehen noch ein Stück schweigend weiter, verschluckt vom Straßenlärm der Busse, Straßenbahnen und Lastwagen, vom schrillen Pfeifen eines Milizionärs, der einige Mädchen daran zu hindern versucht, verkehrswidrig die Straße zu überqueren. Dann bleibt Boris vor einer Tür stehen, über der an der Fassade in großen Neonbuchstaben
Kawkazski
steht, einem jener Orte, die gewöhnlichen Menschen in der Regel verschlossen bleiben.
    Boris sagt, ich solle warten, und geht auf den Türsteher zu. Er kramt in seiner Jackentasche und zieht daraus eine rotweiße Packung Marlboros hervor, etwas, das ich erst einmal gesehen habe, weil es eine Schwarzmarkt-Ware ist, genauso |370| wie Jeans und Grundig-Radios mit Frequenzen außerhalb der Reichweite unserer Störsender, die sogar die
Voice of America
und den
BBC
empfangen können. Steckt unter der Marlboro-Packung auch noch ein roter Zehn-Rubel-Schein? Ich kann es von dort aus, wo ich stehe, nicht erkennen, aber der Türsteher, dessen alberne Uniform so aussieht, als stammte sie aus Gogols ›Mantel‹, tritt beiseite und tut das, weswegen er eigentlich dort steht: Er öffnet die Tür. Boris fordert mich mit einladend ausgestrecktem Arm und einem leisen Lächeln in den Augen auf einzutreten. Das ist der Boris, den ich kenne, der älter ist und vernünftiger und alles weiß.
    Der Gastraum ist beinahe leer. Freie Tische mit weißen Tischtüchern auf glänzendem Parkett, ein Zierbäumchen im Topf hinter einem prachtvollen Flügel   – eine Atmosphäre von verblichenem Luxus, die eher zu einem Ort aus einer Erzählung von Tschechow passt als in die weltweit führende proletarische Stadt. Ein gleichgültiger Kellner in weißem Hemd und schwarzem Jackett mit einem Fettfleck auf dem Ärmel durchquert gelassen den Raum, um uns die Speisekarten zu bringen. Ich tue so, als würde ich die Zeilen mit den fremdartigen Vorspeisen studieren, wobei ich tatsächlich nur so tun kann. Boris bestellt eine Flasche Sekt und lehnt sich zurück, während der Kellner um uns herumschlurft und den Tisch mit Gläsern und Servietten deckt. Er lehnt sich zurück und starrt mich an, als hätte er sein Leben lang in solchen Restaurants gesessen, als hätte er nicht soeben einen ganzen Wochenlohn auf die Packung Marlboros und das Bestechungsgeld verwendet, um uns Einlass zu verschaffen.
    Ich erwidere seinen Blick, und so starren wir uns

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