Goodbye Leningrad
fährt er fort. Ich weiß nicht, woher Boris diese Einzelheiten über Amerika und das Geld hat. Vielleicht hat er ja Maxim Gorkis Schrift ›Die Stadt des gelben Teufels‹ gelesen, über dessen Besuch in New York in den zwanziger Jahren, als unsere Schriftsteller noch ins Ausland reisen durften. »Da«, sagt er und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf unsere schmutzigen Teller mit lauter Knochen und abgenagten Spießen, »wir zählen nicht jede einzelne Kopeke. Wenn wir feiern, dann feiern wir.« Er greift nach seinem Glas und trinkt es in einem Zug aus, als wolle er mir vorführen, wie man richtig feiert. »Unser Leben hier besteht aus mehr als nur aus Arbeit und Börse.«
»In Wirklichkeit«, sage ich, »ist es weniger. Wir haben nicht einmal eine Börse.«
Er lehnt sich zurück, ohne meine Bemerkung zu hören oder ihr Beachtung zu schenken. »In unserem Leben geht es um Freundschaft und Liebe«, setzt er hinzu.
»Freundschaft, ja«, sage ich, »aber weniger um Liebe. Du bist ganz offensichtlich nicht in mich verliebt gewesen.«
Was ich ihm eigentlich gern sagen würde, ihm jedoch nie sagen konnte, ist, wie ich mich gefühlt habe, als er keinerlei Anstalten machte, nach Leningrad zu kommen, um mich zu |374| retten, und sei es nur für ein Wochenende. Als ich Pläne über Pläne ausheckte und die Tage zählte und er nicht. Es war erniedrigend. Ich fühlte mich, als sei ich auf einmal verabscheuenswert und wertlos, wie ein Wurm, der Zentimeter für Zentimeter durch den Komposthaufen unserer Datscha kriecht.
Eine Frau in Schürze nähert sich schwerfällig aus der Küche und beginnt, die schmutzigen Teller auf ihrem Unterarm zu stapeln. Boris senkt den Blick und mustert die Flecken auf dem Tischtuch, während ich die Gelegenheit nutze, sein Gesicht, das bereits mit den ersten ukrainischen Sonnenstrahlen in Berührung gekommen ist, und sein Haar, das ihm in weichen, hellen Strähnen in die Stirn fällt, zu betrachten. Dies ist das Gesicht, das mich dazu bewogen hat, mir zwei Monate nach unserer Begegnung auf der Krim fünfzig Rubel von Nina zu leihen und in ein Flugzeug zu steigen, nachdem ich meiner Mutter vorgelogen hatte, ein Linguistik-Professor habe mich zu einer Konferenz nach Kiew geschickt.
Der Kellner schleicht mit einem aufgesetzten, unheimlichen Lächeln heran, in der Hand eine Flasche georgischen Wein, den wir nicht bestellt haben, doch ist Boris zu großspurig, um sie wieder zurückgehen zu lassen, zumal er eben erst die Vorteile russischen Feierns dargelegt hat. Die Flasche wird geöffnet und ihr Inhalt in angeschlagene Gläser gegossen, ein sirupartiger Rotwein namens
Kwantschkara
, der, wie der aalglatte Kellner stolz verkündet, der Lieblingstropfen Stalins gewesen sei. Einen Augenblick lang steht er an unserem Tisch, als warte er darauf, dass wir ihn auffordern, unserem ehemaligen Sowjetführer die Ehre zu bezeigen, als sehe er nicht, dass Boris stirnrunzelnd auf etwas starrt, das am Boden des Glases klebt, und seine Gedanken für eine gewichtige Feststellung sammelt. Als der Kellner schließlich geht, stützt Boris die Ellbogen auf den Tisch und beugt sich zu mir herüber. »Was auch immer |375| du von mir halten magst«, sagt er, »du machst da einen Fehler, den du nicht wiedergutmachen kannst. Den größten Fehler deines Lebens.«
»Und was kümmert dich das?«, frage ich. Stalins Wein schmeckt wie Kompott aus gesüßter Tinte. »Du bist nie nach Leningrad gekommen. Ich bin diejenige gewesen, die nach Kiew und dann nach Moskau gefahren ist, als du bei deinen Freunden in dieser Gemeinschaftsmausefalle ohne warmes Wasser gehaust hast.« Ich sehe einen engen, nach Mottenkugeln riechenden Flur und eine knochendürre Babuschka mit vorwurfsvollem Blick vor mir. »Was willst du also hier, warum liegst du mir in den Ohren wegen meiner Fehler? Vielleicht war es ja ein Fehler, dass ich dich besucht habe. Vielleicht hätte ich es lieber bei jenem Sommer in Nowyi Swet belassen sollen.«
Ich weiß nicht, warum ich diese Tirade losgelassen habe, denn all das ist, wie meine Mutter zu sagen pflegt, Schnee von gestern. In zwei Wochen werde ich Robert Ackerman heiraten, der in Austin, Texas, wohnt, weshalb Boris Krawtschenko aus Kiew trotz seines blonden Haares und seiner unglaublich blauen Augen ziemlich bedeutungslos ist. Aber ist er das wirklich? In seinem Sermon über kollektives Vertrauen steckt mehr als nur ein Quäntchen dessen, was auch mir durch den Kopf gegangen ist, kleine Brocken Wahrheit, die
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