Goodbye Leningrad
eine Zeit lang nur an. Ich habe keine Ahnung, warum Boris hier ist. Nach jenem August auf der Krim war immer ich diejenige, die ihn anrief oder zu ihm fuhr; ich war diejenige, die ihn dazu |371| gedrängt hat, endlich zuzugeben, dass ich mich mit meiner Leningrader Arroganz und meinem Zynismus und der Verherrlichung westlicher Lebensart, wie ich sie mir in ausländischen Büchern angelesen habe, zu sehr von ihm unterscheide.
Der Kellner schlurft mit Sekt und georgischen Vorspeisen herbei und unterbricht unser stummes Gestarre. Boris schiebt die Teller zu mir und fordert mich auf, die pikanten roten Bohnen und das Huhn in Walnusssauce zu probieren. Es ist mir ein Rätsel, wie er, der doch in Kiew wohnt, so vertraut mit der georgischen Küche sein kann. Wir führen eine ungefährliche Unterhaltung über unsere Bucht am Schwarzen Meer und die beiden Grenzkontrollburschen, die, von unseren Kartoffeln und unserem Wein angelockt, ihren Beobachtungsposten auf einem Hügel verlassen hatten und zu uns hinuntergestiegen waren. Als der Sekt ausgetrunken ist, bestellt er eine Flasche Cognac. Der Kellner verzieht vorwurfsvoll sein Gesicht, weil wir ihn lauter schwere Tabletts tragen lassen, und stellt Teller mit Lammspießen und
Huhn- tabaka
vor uns, aromatisch und würzig und so vollkommen anders als das russische Essen. Wir stoßen mit Cognac an. Boris hört auf, sich in Erinnerungen an die Krim zu ergehen, und wendet sich meiner bevorstehenden Heirat zu.
»Warum machst du das?«, fragt er.
Ich bin noch nicht ganz bereit, daher ergreife ich mein Cognacglas und trinke den Rest aus, eine honigfarbene Flüssigkeit, die eindeutig – meine Mutter hat recht – nach Wanzen stinkt.
»Du heiratest einen Amerikaner und wirst in Amerika leben«, sagt er, eine Anschuldigung, die ich nicht abstreiten kann. »Bist du dir darüber im Klaren, dass sie dich nie wieder reinlassen?«
»Sie werden mich schon wieder reinlassen«, sage ich rasch, |372| als würde es dadurch, dass ich es ausspreche, möglich. »Ich behalte meinen russischen Pass. Ich bin nicht jüdisch; ich emigriere nicht nach Israel.« Wenn ich es wäre, kommt mir in den Sinn, würde Boris nicht mit mir an diesem Tisch sitzen und mich an einem solchen Ort, den aufzusuchen ich mir nie erträumt hätte, mit georgischem Essen verwöhnen. Ich erinnere mich noch gut an seine Tiraden über das Schicksal der ukrainischen Juden im Krieg, an sein Befremden darüber, dass sie nach Babi Jar in ihr eigenes Grab marschiert waren. Die Juden von heute, die das Land verlassen wollen, müssen ihren Pass und ihre Nationalität aufgeben, so dass sie nie wieder zurückkehren können. »Ich bin nach wie vor sowjetische Staatsbürgerin. Sie müssen mich wieder reinlassen.« Ich sage das wissend und überlegt, dabei bin ich in meinem tiefsten Inneren alles andere als unbekümmert. Würde ich wirklich auf Besuch zurückkehren können? Vielleicht hat Boris ja doch recht. Warum sollten sie gerade mir die Rückkehr gestatten, einer Verräterin, die sich die Sprachlabore der Universität und die Seminare über Chomsky-Grammatik zunutze gemacht hat, sich alles angeeignet hat, was auch immer aus Büchern über ein London, das sie nie zu sehen bekommen sollte, zu erfahren war, um dann dem Ganzen den Rücken zuzukehren, einen Ausländer zu heiraten und fortzugehen?
Boris ist jedoch noch nicht fertig. »Und selbst wenn du zurückkämst, weißt du, was dann passieren würde?«, fragt er. Es ist ein unheimliches Gefühl, als könnte er in meinen Schädel blicken und meine Gedanken lesen. »Du wärst gebrandmarkt. Jeder würde dir aus dem Weg gehen. Selbst deine engsten Freunde.«
Ich trinke hastig noch mehr Cognac, von dem mir jedoch nur noch schwummeriger wird. Ich werde eine
wrag naroda
sein, ein Feind des Volkes, genau wie Onkel Wolja, der Onkel |373| meiner Mutter, der 1937 verhaftet und erschossen wurde – in jener Zeit, über die wir nicht reden, über die man nur im Westen Bescheid weiß, wo Solschenizyn veröffentlicht wird.
»Ich begreife noch immer nicht, warum du das tust«, sagt er. »Du hast deinen Abschluss an einer großartigen Universität gemacht. Hast eine gute Stelle als Lehrerin. Deine Zukunft ist gesichert. In deinem Fachbereich vertraut man dir. Jeder vertraut dir. Warum wirfst du all das fort?« Ich weiß nicht, ob ich diese Unterhaltung über gute Arbeitsstellen und Vertrauen fortsetzen möchte. »Willst du wirklich in einem Land leben, in dem alles nur ums Geld kreist?«,
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