Goodbye Leningrad
bewirken, dass ich in der Nacht wach daliege und lausche, wie meine Mutter im Nachbarbett atmet.
»
Nu
,
nu «
, sagt Boris, langt über den Tisch und legt eine Hand auf die meine, indem er mir wohlwollend das Recht zubilligt, wütend zu sein. »Ich wollte dir doch nur gratulieren.« Er nimmt meinen Ringfinger, lehnt sich über den Tisch und berührt ihn mit seinen Lippen. »Herzlichen Glückwunsch und alles Gute, ein glückliches Leben und gesunde Kinder«, sagt er, wobei sich die trunkenen Worte in seinem Mund wie nasse |376| Wäschestücke ineinander verschlingen. Er lässt meinen Finger los, greift nach der halb vollen Cognacflasche, stellt sie wieder zurück. »Aber sie werden nie Leningrad sehen, deine Kinder«, sagt er. »Weder die Eremitage noch die Weißen Nächte. Keine Brücken, kein Kirow-Theater.«
Seltsamerweise bin ich nüchtern genug, um mich nicht auf ein Gespräch über Kinder einzulassen. »Borja«, sage ich und lehne mich über den Tisch, um ihm näher zu kommen, »warum bist du hier?«
Er senkt den Blick und starrt in sein leeres Glas. Eine Weile lang wirkt es so, als würde er vielleicht meine Frage beantworten, als würde er vielleicht mit seinen Vorträgen über das Kollektiv, über die Eremitage und das Kirow aufhören. Es scheint, als würde er ja vielleicht endlich zugeben, dass der August in Nowyi Swet mit seinem unermüdlichen Sonnenschein und seinem türkisfarbenen Licht nicht nur in meiner Seele, sondern auch in der seinen Spuren hinterlassen hat.
Dann legt er wieder seine bekannte allwissende Miene auf. »Wie wär’s mit ein wenig Schokolade?«, bietet er an. »Du musst vor deiner Hochzeit unbedingt Schokolade essen.«
Er winkt den Kellner herbei, der in aller Seelenruhe mit einer aus ihrer Silberfolie herausragenden Tafel Schokolade auftaucht, die wie ein exotischer Kuchen auf einem Teller serviert wird. Ich stehe auf, als der Kellner mit einer Rechnung herbeieilt, die bestimmt Dinge enthält, die wir nicht bestellt haben. Boris jedoch ist natürlich darüber erhaben, die einzelnen Posten zu prüfen oder nachzurechnen, wozu man sich allein im geldbesessenen Westen hergibt, wo man vom Feiern und von der Liebe nichts versteht. Ich wickele die Tafel Schokolade wieder ein und nehme sie mit, da ich sie dem gierigen Kellner nicht auch noch gönne.
Wir treten hinaus auf den Newski-Prospekt. Ich habe keine |377| Ahnung, wie viel Uhr es ist, aber es scheint spät zu sein, und wir schlendern ziellos den Kanal entlang, in dem das schwarze Wasser gegen die Ufermauern schlägt. Ein eisiger Wind peitscht von der Newa herüber und bläst den Nebel aus meinem Kopf. Wir gehen am Kirow-Theater vorüber, an den Laternenpfählen des Theaterplatzes, deren Schein sich an die schmiedeeisernen Geländer schmiegt. Die letzten Intourist-Busse verlassen gerade den Platz. Sie fahren die Reisenden zurück zu ihren Hotels, nach einem Tag in unseren Museen und ehemaligen Kirchen, in denen die Reiseleiter sie ermahnt haben, nur ja zusammenzubleiben, als könnte man diese Menschen in Lederschuhen, die sich so ungezwungen bewegen, versehentlich für einen von uns halten.
Es ist doch pure Ironie, denke ich, dass ich zwei Wochen, bevor ich einen anderen heirate, mit Boris durch Leningrad spaziere. Genau das hatte ich mir seit jenem August auf der Krim gewünscht – ihn mit Leningrads Barockbalkonen und Marmorstatuen und Bänken im Schatten von Linden zu betören; vor ihm den magischen Teppich der Prachtstraßen zu entrollen, die mit dem funkelnden Goldfaden ihrer Kirchturmspitzen von der Newa bis zum Newski erstrahlen. Ihm unsere Springbrunnen und unseren
Ehernen Reiter
vorzuführen, unsere perlmutterfarbenen Kuppeln hellblauer Kathedralen und unsere schmiedeeisernen Einzäunungen, hinter denen sich die stillen Gärten verbergen, in denen Puschkin Gedichte verfasste.
Und obwohl es in dieser eisigen Märznacht, da in den meisten Fenstern die Lichter erloschen sind und der Bürgersteig nur noch aus schmutzigem Schneematsch besteht, alles andere als schön ist, frage ich mich, ob Boris nicht doch recht hat und ich einen Fehler begehe. Welche Stadt auf diesem Erdball könnte Leningrad übertrumpfen? Ich werde einen Ort verlassen, den Menschen aus aller Welt aufsuchen und von den höher gelegenen |378| Sitzen ihrer Intourist-Busse aus besichtigen. Ich werde den einzigen Ort verlassen, den ich kenne.
Wir bleiben an einer Ecke stehen, um eine Straßenbahn vorbeirattern zu lassen, und Boris nimmt mich in die Arme.
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