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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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genug, um festzustellen, dass ich im Jahr zuvor trotz all der Süßigkeiten, die meine Mutter angeblich nicht mag, keine Löcher hatte. Ich hoffe, sie kommt zu dem Schluss, dass ich ein außergewöhnlicher |84| Fall bin, und entlässt mich aus diesem Stuhl mit den gepolsterten Armlehnen und dem zu meiner Rechten lauernden Bohrer.
    Sie hört auf zu lesen, legt die Akte beiseite und lässt sich auf einen Hocker neben dem Stuhl fallen. Sie ist so nah, dass ich die feinen schwarzen Haare auf ihrer Oberlippe und die Falten, die sich strahlenförmig von ihren Augen bis in ihr Haar ausbreiten, erkennen kann. Vom Tisch, der sich außerhalb meines Blickfeldes befindet, nimmt sie etwas Langes, Metallenes. »Mach den Mund auf«, sagt sie und fängt an, in meinem Mund herumzustochern, mit einem Metallhaken an meinen Zähnen zu zerren und mir mit einem nach Kohl und Schwarzbrot riechenden Atem ins Gesicht zu pusten.
    Dann hält sie inne, legt das Stocherinstrument beiseite und fängt an, etwas in den Ordner zu schreiben. Sie schreibt und schreibt, und je mehr sie schreibt, desto tiefer sinkt meine Hoffnung, bis sie nicht mehr tiefer sinken kann und auf den Boden des zahnärztlichen Abgrundes stößt. Durch das Surren der Bohrer hindurch höre ich jemanden schreien, und es riecht plötzlich nach durchgebranntem Kabel oder vielleicht nach schwelendem Knochen.
    »Mach den Mund auf«, sagt meine Zahnärztin mit der Baiserhaube, während sie nach Kreide schmeckende Watterollen in meinen Mund stopft. »Und lass ihn offen.«
    Ich schließe die Augen und halte den Mund geöffnet. Ich höre, wie der Bohrer losdröhnt; ich schmecke seine metallene Hitze, während er in einen Zahn bohrt, in einen zweiten, dritten, dann zähle ich nicht mehr mit. Der Bohrer scheint glühend ins Zentrum eines jeden Zahns vorzudringen und dabei fast an etwas Weiches, Ungeschütztes zu rühren, das, wie ich weiß, stärker schmerzen würde, als ich es je ertragen könnte. Ich balle die Hände zu Fäusten und denke an meinen Vater. Ich denke daran, wie stark er hatte sein müssen, um den Sturm |85| im Finnischen Meerbusen zu überstehen. Ich stelle mir vor, wie er von den Wellen hin und her geschleudert, von den im Wind wirbelnden Rudern getroffen wurde. Ich stelle mir vor, wie er mit den Händen das Holz umklammerte und so heftig wie nur irgend möglich ruderte, während harte Regenkugeln in sein Gesicht peitschten. Er hielt allem stand. Ihm wäre es im Leben nicht eingefallen, zu weinen oder zu jammern oder sich anmerken zu lassen, dass er Schmerzen verspürte.
    Als das Surren des Bohrers schließlich verstummt und ich spüre, wie die durchnässten Watterollen entfernt werden, öffne ich die Augen und sehe Wera Pawlowna lächelnd vor mir.
    »
Molodez «
, sagt sie. »Fünf Löcher, und du hast noch nicht mal geweint.«
    Ich weiß genau, dass sie es gut mit mir meint, denn ich spüre die heiße Spur zweier Tränen, die über meine Wangen gelaufen sind. Aber ich weiß, es waren lautlose Tränen, deshalb sind sie nicht der Rede wert, denn meine Zahnärztin mit den fleischigen Händen hat sie, während sie die von zu vielen
Eichhörnchen
zerstörten Zähne behandelte, nicht bemerkt oder so getan, als würde sie sie nicht bemerken.
    Alles Übrige ist halb so wild. Nachdem die Zahnärztin auf ihrem Tisch die einzelnen Zutaten vermengt hat, tupft sie etwas Kaltes, nach Äther Riechendes in jedes gebohrte Loch. Dann stopft sie ein wenig von der Füllmasse in jeden Zahn und drückt das Ganze mit ihrem Metallhaken fest. Es macht mir nichts aus, dass der Äther brennt und meine Zunge taub werden lässt; es macht mir nichts aus, dass das Kratzen mich zusammenzucken lässt. Wenn ich den Bohrer aushalten kann, kann ich wie mein Vater sein. Dann kann ich alles aushalten.
    Zurück im Warteraum, sehe ich Sweta Jurasowa in der Ecke zusammengekauert hocken. Sie ist von meiner Tapferkeit beeindruckt, doch sind ihre Augen weit aufgerissen. Ich weiß, sie |86| ist sich inzwischen darüber im Klaren, dass zwischen G und Ja nichts Außergewöhnliches geschehen wird, das sie erlöst.
    Während ich dasitze und darauf warte, dass bei allen fertig gebohrt wird, stelle ich fest, dass fünf Löcher gar nicht so schlimm waren. Dimka, der Rowdy, hatte, wie sich herausstellt, sogar zwölf und schwitzt noch immer auf dem Zahnarztstuhl. Soja, der Diamant, heulte so laut und fuhr jedes Mal, wenn sie den Bohrer hörte, dermaßen heftig mit dem Kopf auf, dass die Zahnärztin sie anschrie, aus dem

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