Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
Vom Netzwerk:
abgepackt sind, auf dem Ladentisch mit Delikatessen angeboten, über einem Stapel
kotlety
, handflächengroßen Hackfleischpasteten, und einem Topf Borschtsch, neben einem handgeschriebenen Preisschild, auf dem »zweieinhalb Rubel« steht. Zweieinhalb Rubel ist viel Geld, so viel kostet eine Stunde bei Irina Petrowna, aber meine Mutter fackelt nicht lange. Von seinem Nährwert her liegt der Kaviar vor der Suppe und sogar noch vor frischem Gemüse, deshalb teilt sie das Päckchen in drei gleiche Portionen auf und stellt meinem Vater jeden Morgen eine davon neben den Teller mit Salat, den er nie isst.
    »Da, Bruder Hase, komm her«, ruft er. ›Bruder Hase‹ ist das erste Buch, das ich mit fünf Jahren auf seinem Schoß ganz allein gelesen habe. »Probier mal. Mutter sagt, es ist gesund.«
    Er hebt mich auf seinen Oberschenkel und nimmt einen Löffel Kaviar von der Untertasse. Er ist salzig und gehaltvoll, schmilzt auf meiner Zunge, und ich esse alles auf, da er mich immer weiter mit einem freudigen Lächeln füttert. Mein ganzer Mund schmeckt jetzt nach Fisch, und ich denke an unseren Angelausflug auf dem Finnischen Meerbusen, den einzigen, den wir im vergangenen Sommer unternommen haben. Ich hatte meine eigene Angelrute, mit einem halb rot und halb weiß angemalten runden Schwimmer, und mein Vater befestigte für mich einen Wurm am Haken, der sich in einer winzigen Pfütze auf dem Boden des Bootes gewunden hatte und den ich deshalb nicht hatte aufspießen wollen. Wir saßen auf zwei Brettern, und er warf meine Schnur aus, ohne aufzustehen, ohne das Boot ins Wanken zu bringen. Die Schnur schnellte in einem vollkommenen Bogen durch die Luft und fiel zehn Meter weiter ins Wasser. Er befestigte Würmer an seinen beiden Angelruten, mit schwarzen Fingern, weil er sie aus dem Komposthaufen |113| ausgegraben hatte, und warf sie auf der anderen Seite des Bootes aus. Wir saßen da und warteten, schweigend, da die Fische, wie er mir erklärte, jedes noch so feine Geräusch hören können, selbst ein Husten, selbst das Eintauchen eines Ruders. Wir saßen lange da, während das graue Wasser sich leicht kräuselte, bis die rote Hälfte meines Schwimmers abtauchte und mein Vater flüsterte: »Zieh.« Ich zog, erstaunt darüber, wie schwer die Angelrute inzwischen war, und lehnte mich so weit zurück, dass das Boot zur Seite kippte und die Ruder in ihren metallenen Halterungen quietschten. Er führte meinen Arm, bis ich den Fisch nur wenige Zentimeter unterhalb der Wasseroberfläche glitzern sah. Mit einer präzisen, kometenhaften Bewegung zog er an der Schnur, und der Fisch schnellte durch die Luft und landete auf dem Boden des Bootes. Er war klein, zu klein, gemessen an der Heftigkeit des Rucks und dem Widerstand, den er im Wasser geleistet hatte. Ich beobachtete, wie er wütend mit dem dornigen Kamm auf seinem Rücken gegen die Wandung schlug. Mein Vater packte den Fisch am Kopf, wobei er den stacheligen Flossen auswich, und ich sah den Haken in seinem offenen Maul, der in der Tiefe seines durchbohrten Kiefers funkelte, während er nach Luft schnappte. Er zog den Haken mit einem Ruck heraus, worauf der Fisch zu japsen aufhörte und reglos dalag. »Ein Barsch«, sagte mein Vater. »Dein erster Fang.« Ich nahm den Barsch und hielt ihn zwischen meinen Handflächen. Seine Schuppen waren hart und glänzten silbrig, seine Augen sahen aus, als wären sie aus Glas. Ich hielt ihn genau so, wie ich einst die tote Ente gehalten hatte, die mein Vater von einem Jagdausflug mitgebracht hatte, und strich genau so über die glänzenden Schuppen wie damals über die grünen Federn am Hals der Ente, der so weich und biegsam wie ein Stück Seil in meinen Fingern gelegen hatte.
    |114| Mein Vater nahm die Fische, die er fing, nie aus und aß sie auch nie. Meine Mutter war es, die die Bäuche aufschlitzte, die Innereien in einen Abfalleimer auskratzte und den Fisch in eine Bratpfanne plumpsen ließ. Allerdings habe ich nie erfahren, was sie mit der Ente gemacht hat.
    Der intensive Kaviargeschmack bleibt in meinem Mund zurück, nachdem ich den letzten Happen gegessen habe, während mein Vater die Arme um mich schließt und seine Wange in mein Haar senkt. Er duftet nach Tabak, und ich spüre seine Bartstoppeln an meiner Haut. Ich mag seine Bartstoppeln und seinen Geruch und den Fischgeschmack in meinem Mund   – alles stürmt zugleich auf mich ein, aber er lässt dieses Fest der Sinne nur dreißig Sekunden lang dauern, dann lockert er seine Umarmung

Weitere Kostenlose Bücher