Goodbye Leningrad
»Zerbrich dir nicht den Kopf wegen des
Perfect Continuous
; das ist ohnehin Stoff der siebten Klasse.« Sie fragt sämtliche Formen für jede Zeit ab und ist mit meinen Antworten zufrieden. »Konzentriere dich auf die einfachen Zeiten«, rät sie mir. »Vor allem auf die unregelmäßigen Verben im
Simple Past
.«
|117| Sie überprüft meine letzten Hausaufgaben, eine Übung aus dem britischen Buch- und Schallplattenset, das ich ihr wieder mitgebracht habe.
»Was bedeutet ›privacy‹?«, frage ich, während sie die Seite überfliegt.
Sie sieht mich an, und ich zeige auf den Satz, den ich aus dem Text abgeschrieben habe: »Helen and her new husband lost their privacy when her mother moved across the street.« Nachdem ich in meinem englisch-russischen Wörterbuch nachgeschlagen hatte, nahm ich an, es habe mit dem Wort »private« zu tun, wie in »private property«, unter der unserem Geschichtsbuch der dritten Klasse zufolge sämtliche kapitalistischen Länder zu leiden hatten. Vielleicht haben sie ja Geld verloren, dachte ich, einen maßgeblichen Teil ihres Privatbesitzes, womit noch nicht geklärt wäre, was der Umzug der Mutter damit zu tun hatte. Ich probierte noch ein paar andere Möglichkeiten durch, aber sosehr ich mich auch bemühte, der Verlust, unter dem Helen und ihr neuer Ehemann zu leiden hatten, wollte sich mir einfach nicht erschließen.
Irina Petrowna wirft einen Blick auf den Satz, und mir fällt auf, dass ihre Wangen sich röten. Sie hat meine Fragen immer voller Selbstbewusstsein beantwortet, alles, was mit Tempora, Infinitivkonstruktionen, zahllosen Substantiven, ja sogar mit Artikeln, dem rätselhaftesten grammatikalischen Element überhaupt, zu tun hatte. Sie hat in Sekundenschnelle Partizipien von Gerundien unterschieden und von jedem unregelmäßigen Verb, das uns je begegnete, alle drei Formen hergesagt. Jetzt aber starrt sie auf den Satz, den ich aus der letzten Lektion ihres britischen Übungsbuches abgeschrieben habe, und weiß auf meine Frage keine Antwort.
Sie schlägt ihr englisch-russisches Wörterbuch auf, genau dieselbe Ausgabe, die ich zu Hause habe, in der das Wort »privacy« |118| nicht aufgeführt ist. Dann steigt sie auf einen Stuhl und nimmt einen Band von ihrem Regal, ›The Oxford Dictionary‹. Er ist so dick wie ein Lexikon, komplett auf Englisch. Sie beugt sich darüber, blättert sorgsam bis P, und wir beide starren auf das fremdartige Wort. »1. The condition of being secluded or isolated from the view of, or from contact with, others«, lesen wir. »2. Concealment; secrecy.«
Der Satz ergibt noch immer keinen Sinn. Wollten Helen und ihr Mann zurückgezogen oder isoliert sein? Und falls ja, wie konnte dann die Mutter über die Straße hinweg ihre Zurückgezogenheit stören? Wenn sie wie meine Tante Musa mit meinen drei Cousins und meinen Großeltern alle zusammen in einer Wohnung lebten, dann würde ich es verstehen. Aber auf der anderen Straßenseite? Wir sitzen, über die Seite gebeugt, ratlos nebeneinander. Und wenn die zweite Bedeutung des Wortes gemeint ist, waren dann die beiden Geheimagenten oder Spione, deren Versteck die Mutter entlarvt hatte?
Irina Petrowna, deren Gesichtsfarbe inzwischen wieder normal ist, zuckt schließlich mit den Schultern und sagt, im Russischen gebe es das Wort »privacy« nicht. »Es existiert eben nicht«, verkündet sie. »Dafür gibt es sowohl Zurückgezogenheit als auch Isolation.«
Ich muss an die Zeit denken, als ein Nachbar in der Gemeinschaftswohnung auf unserer Etage Diphterie hatte und alle drei Familien auf Weisung der örtlichen Poliklinik isoliert wurden. An der Wohnungstür hing ein handgeschriebenes Schild: »Diphterie«, so dass niemand, noch nicht einmal eine Telegrammbotin, auf die Idee gekommen wäre, zu klingeln.
Irina Petrowna stellt sich auf die Zehenspitzen und schiebt das ›Oxford Dictionary‹ zurück an seinen Platz im Regal. »Zurückgezogenheit und Isolation ja«, bestätigt sie. »Aber keine ›privacy‹.«
|119| Wie seltsam, denke ich, dass ein englisches Wort sich nicht übersetzen lässt. Heißt das, dass die Engländer etwas wissen, von dem wir keine Ahnung haben? Ist dieses mysteriöse »privacy« eine Erfindung des kapitalistischen Westens, etwas, das wir, das einzige Volk, dem eine lichte Zukunft vorherbestimmt ist, entbehren?
Als ich nach meiner letzten Stunde bei Irina Petrowna unsere Wohnung betrete, spüre ich sogleich, dass etwas nicht stimmt. In der Küche gießt meine
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