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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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und stellt mich zurück auf den Boden.
    »Spiel mir was vor«, sagt er. »Irgendwas von Tschaikowsky oder so.«
    Ich spiele nicht gern Klavier. Ich bin nicht musikalisch, wie mein Klavierlehrer jede Woche bestätigt, wenn er mit mir Tonleitern übt. Aber nun ist es mein Vater, der mich bittet, ihm etwas vorzuspielen, und ich folge ihm in Marinas Zimmer, wo unser Klavier Marke
Roter Oktober
vor der Wand glänzt.
    Er schlurft durch den Flur, lässt sich auf das Sofa fallen, als hätte er sechs Stockwerke erklommen, und sieht mir dabei zu, wie ich den Spitzenläufer zusammenlege und den Klavierdeckelöffne. Das Notenheft, ›Werke für Fortgeschrittene‹, ist, ganz dem Wunsch meines Vaters entsprechend, bei Tschaikowsky aufgeschlagen, bei dem Stück, das mein Lehrer mir seit Wochen aufgibt, »Der Puppe Begräbnis«. Ich mag es nicht besonders, weil es so langsam ist, alles im unteren Bereich der linken Hand, aber es ist das einzige Stück, das ich gut spielen kann, und so fange ich an und lasse es heiterer klingen, indem ich in die Tasten haue, um die Begräbnismelodie in einen Marsch zu verwandeln. |115| »Gut, gut«, flüstert mein Vater mit geschlossenen Augen.
    »Schöne Melodie.«
    Durch meine Akkorde hindurch höre ich einen Schlüssel in der Tür, meine Mutter kommt nach Hause. Ohne ihren Regenmantel abzulegen, unterbricht sie mit sorgenvoller Miene mein Klaviergehämmer und verlangt, dass mein Vater sich umgehend wieder ins Bett begibt. Sie wirft einen Blick in die Küche, der an dem nicht angerührten Salat und der leeren Untertasse hängen bleibt. »Üb weiter«, sagt sie zu mir, während sie sich mit der Schulter unter den Arm meines Vaters zwängt, um ihm vom Sofa aufzuhelfen und ihn ins andere Zimmer zu geleiten.
    Ich klappe den Klavierdeckel zu und schiebe den Stuhl an den Schreibtisch, um meine Englischhausaufgaben für den nächsten Tag zu machen. Mein Vater liegt jetzt im Bett, auf seinem Nachttisch steht eine Tasse Tee, und über den Fernsehbildschirm gleiten körnige Eiskunstläufer. Vorsichtig ziehe ich eine Schallplatte aus ihrer Papphülle und lege sie auf den Plattenteller. Es rauscht eine Weile, dann senkt sich die Nadel in die Rille, und eine Stimme, britisch und vertraut, kündigt die Lektion an: das
Simple Present
. Als wir mit dem Unterricht anfingen, hat Irina Petrowna mir die aus Großbritannien stammende Sammlung, die ihr ganzer Stolz ist, ausgeliehen und mich beauftragt, mir jeden Tag zwei Seiten der jeweiligen Lektion anzuhören und unter Verwendung der entsprechenden Grammatik zehn von mir erdachte Sätze aufzuschreiben.
    »I go to school by school bus«, sagt die Stimme als Beispiel für eine gewohnheitsmäßige Handlung, die im
Present Tense
steht. Ich weiß nicht, was ein Schulbus ist, ersetze ihn aber einfach durch den Bus Nr.   22, mit dem meine Freundin Mascha zu ihrer englischen Schule fährt. Ich hoffe, dass es ab September auch meine englische Schule sein wird, nach der Aufnahmeprüfung, |116| und so schreibe ich ganz mutig in mein Heft für Irina Petrowna: »I go to school by Bus Nr.   22.«
    Meine Mutter kommt herein, sieht sich mit kritischer Miene im Zimmer um, nimmt den Spitzenläufer vom Sofa, faltet ihn auseinander und legt ihn wieder auf den Klavierdeckel. Sie zieht die Vorhänge zu, rückt die Töpfe mit Aloe und Frühlingszwiebeln auf dem Fensterbrett zurecht und wirft einen Blick in mein Heft, als könnte sie den englischen Satz, den ich soeben geschrieben habe, lesen. Mürrisch zieht sie die Augenbrauen zusammen, als begreife sie nicht, warum ich etwas so Fremdartiges mache, wie Englisch zu lernen; warum ich, ihrer Hoffnung zum Trotz, dass ich mich wie sie der Medizin widme, einen ganzen Sommer sitzend verbringe   – in einer Straßenbahn, bei Irina Petrowna, am Schreibtisch im Zimmer meiner Schwester. Ich bin froh, dass sie nicht früher nach Hause gekommen ist und sich erkundigt hat, warum ich mich verspätet habe, um sich dann über meinen Eigensinn zu beklagen und einmal mehr sagen zu können, ich sei so stur wie mein Vater.
     
    Ich habe meine letzte Unterrichtsstunde bei Irina Petrowna. In zwei Tagen findet meine Aufnahmeprüfung an Maschas englischer Schule statt.
    »Hier ist eine Tabelle mit allen Zeiten«, sagt meine Lehrerin und faltet einen plakatgroßen Bogen Papier mit lauter Hilfsverben und Partizip-Perfekt-Formen auseinander. Die Zeiten sind in vier Gruppen unterteilt   – Präsens, Präteritum, Perfekt und Futur   – insgesamt zwölf.

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