Goodbye Leningrad
sehen. Sie setzt sich ganz hinten an ein freies Pult, um eine ihrer unangekündigten Unterrichtsvisiten abzuhalten.
»Sofabeine« hört plötzlich auf, über ihre behelfsmäßige Bühne zu trippeln, der Scheinwerfer unserer Aufmerksamkeit schwenkt von ihr fort und lässt sie im Dunkeln zappeln. Ich versetze Larissa unter dem Tisch einen Tritt, worauf sie die Augen in meine Richtung verdreht und ihre Brauen zusammenzieht. Niemand wagt etwas zu sagen, noch nicht einmal zu flüstern, während die Direktorin im Hintergrund lauert.
Wir können »Sofabeines« Not förmlich riechen. Sie dringt aus den Poren ihres geröteten Gesichts und benetzt ihr feines Haar, wodurch sich die Locken über ihren Schläfen zusammenziehen. Nach einer Minute bleiernen Schweigens geht Ljudmila strauchelnd und mit eintöniger Stimme von den pikanten Affären am französischen Hofe zur vom Lehrplan verordneten Rolle der Frau in der Gesellschaft über.
Ich kritzle mit meinem Füller auf den Tisch, was schändlich ist, da sich rote Tinte nicht entfernen lässt. Ich schreibe das Wort
Liebe
, wobei ich die Feder ins Holz drücke, so dass die Buchstaben neben den Pultkommentaren anderer Schüler über die Lehrer und das Leben auffallen. Fett und saftig pulsieren sie wie die Herzen der jungen Liebenden in Ljudmilas unterbrochener Geschichte.
Der Vortrag über die Rolle der Frau im Russland des 19. Jahrhunderts schwebt leise an meinen Ohren vorbei durch ein offenes Fenster nach draußen, wo sich die Sonne in tropfenden Eiszapfen zu Regenbogensplittern bricht. Gleich nach der |144| Stunde werde ich in halsbrecherischer Geschwindigkeit nach unten rennen und, noch außer Atem, ganz beiläufig durch den Flur an Raum 11 vorübergehen, wo die siebte Klasse jeden Donnerstag Zoologieunterricht hat. Wenn ich Glück habe, bekomme ich vielleicht Nikolai Gromow zu Gesicht, den Jungen, der mich vor zwei Wochen in der Garderobe angelächelt hat.
Nikolai hat vor Kurzem sein Pioniertuch gegen ein Komsomolabzeichen eingetauscht. Das heißt, er ist inzwischen vierzehn, das Alter, in dem jeder Schüler von den Pionieren zum Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband, überwechselt. Ich kann es kaum fassen, dass ein Vierzehnjähriger eine Fünftklässlerin in der Garderobe angelächelt hat.
Die Klingel hält Ljudmila von weiteren Versuchen ab, dem Leichenschauhaus der gesellschaftlichen Ordnung im vorrevolutionären Russland Leben einzuhauchen. Niemand rührt sich. Wir dürfen uns erst bewegen, wenn die Lehrkraft uns die Erlaubnis dazu erteilt, und die Anwesenheit der Direktorin wirkt wie eine unausgesprochene Mahnung an dieses ungeschriebene Gesetz. Sie erhebt sich in einer einzigen würdevollen Bewegung, ordnet die Papiere, die sie mit lauter Notizen versehen hat, und verlässt schweigend den Raum. Ich glaube nicht, dass ich ihre Stimme je gehört habe, außer durch ein Mikrofon während feierlicher Schulanlässe.
»Die Stunde ist zu Ende«, seufzt Ljudmila, die sich an ihren Schreibtisch setzt, mit der einen pummeligen Hand in ihrem Klassenbuch zu blättern beginnt und mit der anderen ihre Augen abschirmt. Als ich auf dem Weg nach draußen an ihr vorübergehe, bemerke ich, dass ihre plumpen Finger zittern.
Obwohl der Unterricht um zwanzig vor drei zu Ende ist, dürfen wir heute noch nicht nach Hause gehen. Die vierteljährliche Pionierversammlung findet statt, und um die |145| Anwesenheitspflicht zu gewährleisten, sind die Türen des Schulgebäudes seit zwei Uhr mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Der stellvertretende Direktor hält Wache und lässt nur Komsomolzen nach draußen, deren Hälse keine roten Tücher zieren. Zwei Jungs aus meiner Klasse versuchen, sich an ihm vorbeizustehlen, indem sie sich unter eine Gruppe von Komsomolzen mischen, doch er schnappt sie sich sogleich, schließt die Tür und hält ihnen eine kurze Standpauke.
Von meinem Platz auf dem Fensterbrett im Flur beobachte ich sehnsüchtig Nikolai Gromow dabei, wie er in der Garderobe seine Jacke und seine Stiefel anzieht. Im Gebäude müssen alle Schüler Schuhe tragen, die nur für die Schule bestimmt sind und die wir in Stoffbeuteln an uns zugewiesenen Haken aufbewahren. Sein Schuhbeutel hängt ganz hinten im Bereich der Älteren, sein Nachname »Gromow« ist in rotem Kreuzstich auf das grobe Leinen gestickt.
Nikolai geht zur Tür, ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen, und als sie kurz aufgeht, ist seine große Gestalt einen Moment lang in einen Diamant aus
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