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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Bericht, den sie vermutlich in der Nacht zuvor zwischen |148| zwei Hausaufgaben verfasst hat. Ich habe Mitleid mit Tamara, die vor uns auf der Bühne ins Schwitzen gerät, anstatt Nikolai Gromow aus unserer mit einem Vorhängeschloss verriegelten Schule zu folgen.
    Während ich von einer Woge des Verliebtseins erfasst werde, würde ich am liebsten der ganzen Welt von Nikolai erzählen. Ich habe das Bedürfnis, diese sprühende Leichtigkeit, diesen Elan, den ich bei jeder Bewegung, bei jedem neuen Gedanken an ihn verströme, mit jemandem zu teilen. Ich überlege sogar, ob ich ihm davon erzählen soll.
    Leise ziehe ich ein kleines Helft aus meinem Ranzen, ein geheimes Notizbuch, in das ich schreibe, was nicht ausgesprochen werden darf. In dem ich mich zum Beispiel frage, wann sich meine Mutter von einer jungen, risikofreudigen Chirurgin zu einem Gewerkschaftsmitglied verwandelt hat, das in diesem Moment nicht Ausschau nach einem Ausweg aus dieser trostlosen Versammlung halten würde. In dem ich mich frage, warum ich mich all das frage. Befürchte ich, dass sich eine solche Wandlung auch an mir vollziehen könnte? Dass ich eines Tages womöglich wie sie werde und freiwillig solche Veranstaltungen besuche, anstatt älteren Jungs in den sonnendurchfluteten Hof zu folgen?
    Als Tamaras Stimme verklingt, beginne ich, meine Gedanken zu Nikolai aufzuschreiben, merke jedoch bald, dass ich an Nikolai schreibe. Eine Flut von Wörtern strömt auf die Seite und flicht die verschiedenen Gefühlsstränge zur schmucken Litze eines Briefes.
    Ein von Natascha angeregter, eher spärlicher Applaus löst im Publikum erneut Unruhe und Lärm aus, während Tamara ihre Notizen ordnet und die Stufen von der Bühne hinunterstapft. Natascha, die unterdessen in den Kulissen gelauert hat, schwebt empor zum Mikrofon und klopft mit einem Kugelschreiber |149| darauf. In einem kurzen, dunkelblauen Rock, mit der roten Flamme eines Pioniertuchs um den Hals, sieht sie aus wie eine von uns, nur enthusiastischer.
    »Der nächste Punkt auf unserer Tagesordnung ist persönlicher Natur«, sagt Natascha, worauf vereinzeltes leises Gekicher im Nu verstummt. Persönliche Themen scheinen bei dieser Versammlung von dreihundert Schülern, die aufgrund einer verriegelten Eingangstür hier zusammengepfercht sind, fehl am Platz zu sein.
    In der ersten Reihe wird weiter gekichert, und Natascha wartet geduldig, während sie mit mildem Vorwurf im Blick auf zwei Plappermäuler aus der dritten Klasse hinuntersieht.
    »Auch wenn es oberflächlich betrachtet belanglos erscheinen mag, erweist sich dieses Thema nach gründlicher Prüfung doch als ziemlich schwerwiegend.« Inzwischen ist jegliches Gekicher erstorben, und unsere versammelte Pioniergemeinschaft verhält sich ungewöhnlich ruhig. »Ich bitte Ljubow Petrowna, die Klassenlehrerin der 5 b, zu mir auf die Bühne.«
    Ljubow Petrowna, eine stämmige ältere Frau in einem blauen Anzug, den sie tagtäglich trägt, steigt auf die Bühne und stellt sich neben Natascha, wobei die strenge Brille mit dem massiven Gestell ihre Gestalt noch imposanter wirken lässt. Sie strahlt Macht aus, die wie Rauch von der Bühne herunterwallt und uns alle zum Schweigen bringt. Sie braucht kein Mikrofon.
    »Eine von uns«, sagt Natascha mit dumpfer Stimme, die persönlichen Belangen vorbehalten ist, »hat eine Nachricht verfasst, die mit den Statuten der Pioniere nicht zu vereinbaren ist.« Erneut spitzen wir die Ohren, wie einige Stunden zuvor, als Ljudmila »Sofabeine« anfing, ihre Liebesgeschichten zum Besten zu geben.
    »Zum Glück ist die Nachricht von Ljubow Petrowna abgefangen worden, so dass diejenige, die sie verfasst hat, jetzt die |150| Gelegenheit hat, sich in aller Öffentlichkeit zu entschuldigen.« Es ist so still, dass wir die Stimmen von Erstklässlern hören können, die auf dem Schulhof Fangen spielen. »Die Verfasserin der Nachricht möge jetzt auf die Bühne kommen.«
    Ein Strom aus Geflüster und Gescharre flutet durchs Publikum, nimmt mit jeder Sekunde Warten zu und ergießt sich in die Wolke aus Autorität, in welche die Bühne gehüllt ist. Die Sonne scheint durch die Fenster und verleiht der grellen Beleuchtung eine Tönung von verdünntem Tee.
    »Nun komm schon«, wiederholt Natascha entschieden und nachdrücklich mit der Stimme einer selbstgerechten älteren Schwester. In der dritten Reihe erhebt sich ein Mädchen, ihr Haar blond und glänzend, ihr Gesicht beinahe so rot wie ihr Halstuch. Sie steigt die drei

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