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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Stufen zur Bühne hinauf in den Machtbereich und nähert sich ganz langsam Natascha und Ljubow Petrowna, die beide kerzengerade, mit feierlicher Miene dastehen. Vor Ljubow Petrowna wirkt sie sehr klein, fast gebrechlich. Sie sieht so aus, als könnte sie jeden Moment auflodern, um schon im nächsten Augenblick zu einem Häuflein Asche zu verbrennen.
    »Es tut mir leid«, sagt das Mädchen kaum hörbar und starrt auf ihre Füße.
    »Lauter«, sagt Ljubow Petrowna.
    »Es tut mir leid«, wiederholt das Mädchen mit etwas hellerer Stimme, wobei ihr Mund die Worte eher mechanisch, nicht flehend formt.
    »Und ich werde es nie wieder tun«, sagt Natascha, die den Ablauf des Ganzen inszeniert.
    »Und ich werde es nie wieder tun«, wiederholt das Mädchen mit schriller, angespannter Stimme, als könnte sie jeden Moment reißen wie die Saite einer Violine.
    Ljubow Petrowna beugt sich zu dem Mädchen herab und |151| klopft ihm auf die Schulter. Das Mädchen macht auf dem Absatz kehrt und eilt die Stufen hinunter, vorbei an unseren gierigen Blicken, vorbei an dem immer lauter werdenden Tumult, hinaus aus der Aula.
    »Die Versammlung ist beendet«, sagt Natascha lächelnd, mit vor Genugtuung bebender Stimme.
     
    Im anschließenden allgemeinen Gedränge scheint niemand aufbrechen zu wollen, und ich sehe, wie sich meine Klassenkameradinnen um meine Banknachbarin Larissa drängen. An ihren leicht angewinkelten Ellbogen und ihren Seitenblicken erkenne ich, dass sie gerade die Geschichte des Mädchens erzählt. Irgendwie schafft es Larissa, über sämtliche Schulskandale auf dem Laufenden zu sein, weshalb ich trotz meines brennenden Verlangens, alles über Nikolai zu erfahren, noch gezögert habe, sie nach ihm zu fragen.
    »Und dann hat sie die Nachricht dem Jungen gegeben, ich glaube, er heißt Waleri, und die Lehrerin hat es gesehen und sich den Zettel geschnappt!«, bricht es aus Larissa hervor, wobei in ihren Mundwinkeln kleine Speichelblasen schäumen.
    Ich denke an Irina Petrowna, meine erste Englischlehrerin, und an das geheimnisvolle Wort »privacy«. Ich erinnere mich sogar noch an den Satz aus ihrem britischen Lehrbuch: »Helen and her new husband lost their privacy when her mother moved across the street«, den nicht einmal meine Lehrerin entschlüsseln konnte. Erst jetzt erscheint er mir sonnenklar: Helen und ihr neuer Mann mussten sich von derselben Privatsphäre verabschieden, die das Mädchen mit dem blonden Haar soeben verloren hat. Helens Mutter auf der anderen Straßenseite war genauso wie Ljubow Petrowna, die eine Nachricht an einen Jungen abfing und das Mädchen, das sie verfasst hat, dazu zwang, sich vor der versammelten Schule zu entschuldigen. Ich |152| wünschte, ich könnte in die Straßenbahn steigen und es Irina Petrowna erzählen; ich wünschte, ich könnte sie mit diesem neu erworbenen Wissen aufklären, das noch nicht einmal in ihrem dicken ›Oxford Dictionary‹ zu finden war.
    »Was stand in der Nachricht?«, fragt Dina aus der 5c, während sie sich mit den Ellbogen einen Weg zu Larissa bahnt.
    Larissa schürzt die Lippen und hält inne, um die Spannung noch zu steigern. Eine Sekunde lang ist unser Kreis reglos, während Larissa uns als stolze Besitzerin einer exklusiven Information mit finsterer Miene anstarrt.
    »Ich liebe dich. K.«, verkündet sie schließlich, worauf sogleich allgemeines Gekicher zu hören ist. »Und sie heißt Kira«, fährt sie so hastig fort, dass sie sich um ein Haar an ihren eigenen Worten verschluckt hätte, »so haben sie schnell herausgefunden, wer es war. Könnt ihr euch das vorstellen? Ich liebe dich! Mitten im Unterricht! Und dieser Waleri, an den die Nachricht gerichtet war, hat ihnen gleich verraten, dass sie es war.«
    »Was für eine Idiotin«, sagt Wiktor, der in Mathe neben mir sitzt.
    »Und als sie ertappt wurde, hat sie es nicht zugegeben«, platzt Larissa heraus, »aber Waleri hat ihnen gesagt, es könne nur sie sein!«
    Jetzt bin ich froh, dass ich Larissa nichts von Nikolai erzählt habe. Wie Natascha und meine Mutter scheint sie von Liebe nicht viel zu verstehen.
    Hätte mein Vater dafür Verständnis gehabt? Was hätte er von meinem eigenen nicht genehmigten Brief gehalten?
    »Und wenn du an ihrer Stelle wärst?«, fragt Dina, die inzwischen direkt vor Larissa steht. »Würdest du gern auf die Bühne vor Ljubow Petrowna zitiert werden?«
    »Ich hätte nie so einen Brief geschrieben«, versichert Larissa, die ihre Fäuste lockert und ihre Hände in die

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