Goodbye Leningrad
Halbdunkel des Waldes tritt meine Schwester ins Blickfeld. Sie runzelt die Stirn und ihre Augen funkeln vor Zorn. »Wir haben eine Stunde lang nach dir gesucht!«, schreit sie, doch als sie näher kommt, werfe ich einen verstohlenen Blick in ihren Korb. Sie weiß, wohin ich schaue, und hört auf zu schreien. Auf dem Korbboden liegen bloß ein paar Birkenpilze und einige wenige eher gewöhnliche Pilze, zu groß und zu alt, um sie auch nur einzusalzen.
Sie versucht, den Inhalt meines Korbes zu ignorieren, und streift ihn nur mit einem flüchtigen Blick, doch ich zwinge sie, genauer hinzusehen. Ich halte ihr meine perfekte
belyje -Fam
i lie
– die acht Grabenkrieger – direkt unter die Nase, worauf sie sich ein Lächeln abringt, da niemand in der ganzen Welt, nicht einmal meine ältere Schwester, ihre Pracht übersehen kann.
Wir gehen zurück, schlendern auf einem schmalen Pfad durch die Felder, während meine Mutter meine Rechte fest in ihrer warmen Hand hält. Wir gehen dicht nebeneinander, wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden, wie Ameisen, die sich gegenseitig nach Hause schleppen.
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ÜBER DIE LIEBE
Ljudmila Iwanowna, unsere Literaturlehrerin in der fünften Klasse, ist klein und mollig und trippelt auf winzigen Füßen von einer Ecke des Klassenzimmers zur anderen. Wir nennen sie »Sofabeine«. Sie ist das genaue Gegenteil von unserer Englischlehrerin, die spindeldürr und groß ist und sich nur selten bewegt.
Mit »Sofabeine« nehmen wir den Vater der russischen Literatur, den Shakespeare der russischen Sprache, durch. An Puschkin ist nicht viel, das sich ideologisch verbrämen ließe: Er ist ganz einfach ein klassischer Schriftsteller, dessen scharfes Profil und lockiges Haar jedem Schüler innerhalb der Grenzen der Sowjetunion vertraut sind. Aber Ljudmila Iwanowna, deren fülliges Gesicht von eng anliegenden, chemischen Locken umrahmt ist, macht etwas Unerlaubtes, Gewagtes: Sie unterhält uns mit einer nicht im Lehrplan vorgesehenen Analyse der Lieblingslektüre von Tatjana, der tugendhaften Heldin aus ›Eugen Onegin‹.
»Tatjana liebte romantische Romane«, schmachtet Ljudmila »Sofabeine« und sonnt sich im raren Scheinwerferlicht unserer Aufmerksamkeit. »Sie las auf Französisch, wie alle Russen damals, und vertiefte sich in die Liebesabenteuer junger Herzöge und Hofdamen.«
|142| Wir werden hellhörig beim Wort »Liebe«, das in der Schule nie erwähnt wird, jedenfalls nicht in seiner romantischen Bedeutung. Wir hören vieles über die Liebe zum Mutterland und die Liebe zur Kommunistischen Partei, nie jedoch etwas über die zwischenmenschliche Liebe. Es ist geradezu skandalös, dass Tatjana, der Inbegriff der Keuschheit in der russischen Literatur, für solche unschicklichen Romane schwärmte.
»Glaubst du, sie konnte gut küssen?«, flüstere ich meiner Nachbarin Larissa zu. Wir sind dreißig und teilen uns Zweiertische, eingesperrt in einen stickigen Klassenraum. In den Strahlen des schräg durch die Fenster einfallenden Aprillichts wirbelt Staub. »Ich meine, bevor sie diesen General geheiratet hat?«
Larissa kichert und zieht befremdet die Augenbrauen in die Höhe. Wer weiß, worauf überhaupt Verlass ist, wenn Puschkins Tatjana sich dermaßen freizügig verhalten konnte.
»Sofabeine« sonnt sich im verstärkten Licht unserer Aufmerksamkeit, fuchtelt mit ihren kurzen Armen und rollt mit den Augen, was unbedingt dazu gehört, wenn man die tragische Geschichte einer französischen Herzogin vorträgt. Mit feurigen Blicken und bebenden Locken erzählt Ljudmila entrüstet und triumphierend von dieser Liebe, die eigentlich ein Tabu ist.
Ich weiß natürlich von dieser Art von Liebe, obwohl meine Mutter wie meine Schule so tut, als gäbe es sie nicht. Schließlich werde ich im nächsten September schon zwölf sein und in die sechste Klasse kommen. In meinem Hof, wo die Dinge wirklichkeitsnäher sind, sehe ich, wie sich diese Liebe über rostigen Heizkörpern zwischen den Stockwerken versteckt hält, wo Sechzehnjährige an Gitarrensaiten zupfen, von Herzschmerz singen und in der Dunkelheit ihre Zigaretten aufleuchten lassen.
Inmitten dieser Puschkin-Schwärmerei, während wir gebannt |143| mitverfolgen, wie sich Ljudmila zum Höhepunkt ihrer Geschichte emporschwingt, geht die Tür auf und unsere Direktorin kommt herein, feierlich wie immer. Sie ist groß und streng, mit einer makellosen Hochfrisur auf ihrem ernsten Kopf. Ich kenne niemanden, der sie je hat lächeln
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