Goodbye Leningrad
Sonnenlicht graviert; dann geht die Tür genauso rasch wieder zu. Durch ein schmutziges Fensterquadrat hindurch sehe ich, wie er mit seinen storchenähnlichen Beinen über Pfützen steigt, während er das graue Pflaster des Hofes überquert.
Der Hof ist mit aufgeweichten, schmutzigen Schneehaufen gesprenkelt, den letzten Relikten des endlosen Winters, dessentwegen wir sechs Monate lang in Wolle und Pelze gehüllt waren. An den kältesten Morgen stieg ich mit einem Schal über der Nase, den meine Mutter mir um den Kopf gewickelt hatte, in den Bus, der die eisverkrusteten Straßen entlangholperte, vorbei an zugefrorenen Kanälen, erstarrten Bäumen und mit Schneehauben versehenen Denkmälern. So ist das winterliche Leningrad in die Schablone meines Gedächtnisses eingestanzt: |146| schimmernd wie eine Kamee, betrachtet durch einen Kreis in der Größe einer Fünf-Kopeken-Münze, den mein Atem auf einem vereisten Busfenster frei gehaucht hat.
Der Frühlingsschnee ist porös und mürbe, und Nikolai Gromow, der erste Junge, den ich je mochte, geht fort, ohne meine Existenz zur Kenntnis zu nehmen.
»Die Pionierversammlung beginnt in fünf Minuten«, ertönt aus dem Lautsprecher die enthusiastische Stimme von Natascha, die für die schulischen Pionieraktivitäten verantwortlich ist. Natascha ist zwanzig, doch sie trägt ein Pionierhalstuch und verhält sich überhaupt wie eine eifrige Fünftklässlerin, die sich um eine
pjatorka
, eine Fünf, bemüht. Fünf ist die beste Note für eine absolut einwandfreie Arbeit. Ich bekomme sowohl in Englisch als auch in Russisch eine glatte Fünf. Ljudmila »Sofabeine« liebt meine Aufsätze, in denen ich mich nach Guerillamethode um die verordneten Interpretationen von Geschichten voller Zitate aus russischen Klassikern schlängele. Ich kann mit Stolz von mir sagen, dass ich in den zwei Jahren auf dieser Schule noch nie eine befriedigende Drei, geschweige denn eine Zwei, eine
dwojka
, ein Ungenügend, bekommen habe.
Ich spüre, dass Nikolai Gromow ebenfalls weit davon entfernt ist, je eine
dwojka
zu bekommen. In seinem Blick ist ein Funkeln, ein Leuchten von innen heraus. Unser Altersunterschied von zwei Jahren erhebt ihn sogar noch höher über alle anderen, ein älterer Junge, dessen langer Hals und gemessener Gang mich ganz schwach werden und an meinen Vater denken lassen.
Durch die vom stellvertretenden Direktor bewachte verriegelte Tür gibt es kein Entrinnen, weshalb mir nichts anderes übrig bleibt, als in die Aula zu trotten, in der es bereits vor lauter braunen Kleidern und grauen Anzügen, unseren Uniformen, nur so wimmelt. Der Lärm der dritten bis sechsten Klassen, |147| drei Abteilungen pro Jahrgang, hallt von den Wänden wider, aus den Reihen stapelbarer Stühle dringt Geschrei und Gelächter zu mir. Alle sind da; das Vorhängeschloss hat gewirkt.
»Wir sind heute hier versammelt, um über unsere Erfolge in diesem Quartal zu berichten.« Nataschas von einem Mikrofon verstärkte Stimme bebt vor einer Begeisterung, die eigentlich eines bedeutenderen Publikums als einer Schar Pioniere von der englischen Schule des Oktjabrski-Bezirks würdig wäre. Zu einer Menge zu sprechen, scheint ihr genauso leichtzufallen wie die Koordination unserer handwerklichen Projekte nach dem Unterricht, und auf der Bühne wirkt sie ganz in ihrem Element und wortgewandt, im vollen Bewusstsein ihrer Verantwortung. »Unsere erste Rednerin ist die Vorsitzende des Sowjets der Pioniere unserer Schule.«
Tamara Kusnetsowa, ein fülliges Mädchen, dessen Haar in zwei geflochtenen Rattenschwänzen über ihren Rücken fällt, tritt behäbigen Schrittes, mit einem Stapel Notizen in den Händen, ans Mikrofon. Ganz allmählich, wie vorauszusehen war, ebbt das Stimmengewirr ab, obwohl es nicht ganz verstummt. Für mich liegt Tamaras Bedeutung einzig und allein darin, dass sie eine Klassenkameradin von Nikolai Gromow ist. Sie ist ebenfalls vor Kurzem vierzehn geworden, wird jedoch die mit der Leitung des Sowjets verbundenen Aufgaben noch bis Ende des Jahres erfüllen.
Langweilig und monoton spricht Tamara über den XXIII. Parteitag und zählt dessen Erfolge auf, die uns nur allzu vertraut sind, da sie auf rote Transparente gemalt von den imposantesten Gebäuden der Stadt drohend auf uns herabblicken. Als sie mit ihren Zitaten aus der Rede des Generalsekretärs fertig ist, beginnt sie mit der Aufzählung der Triumphe unserer eigenen Schule, die in weit weniger ausgefeiltem Stil formuliert sind, ein
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