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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Jahrhunderte zuvor zwang er die Stadt ins Leben, indem er Pfeiler in das Sumpfgebiet treiben ließ und die Inseln des windigen Newa-Deltas in einen Hafen verwandelte, mit dem einen Ziel: ein Fenster nach Europa zu öffnen. Es ist meiner Meinung nach angemessen, mit Kevin dieses Denkmal aufzusuchen, der dadurch, dass er dort steht, den unwiderlegbaren Beweis dafür liefert, dass dieser Durchlass nach wie vor intakt ist, wenn auch nur in eine Richtung.
    Während Kevin ganz rechtmäßige Fotos vom Zaren und von der goldenen Turmspitze der Admiralität aufnimmt, lehne ich an der Brüstung und blicke in das aufgewühlte, zinkfarbene Wasser. Hätte meine Mutter sich 1950 nicht zur Heirat mit meinem Vater entschlossen, was einen Umzug aus der Provinzstadt Iwanowo nach Leningrad bedeutete, dann würde ich heute nicht einem Jungen aus England all diese architektonische Pracht vorführen. Dann würde ich nicht hier stehen, umgeben von ausladenden Brücken, die sich von einem granitenen Ufer zum anderen spannen, von schmiedeeisernen Geländern und Zäunen, von Turmspitzen und Kuppeln und den kraftvollen Bögen des italienischen Barock.
    Was mochte meine Mutter wohl dazu bewogen haben, den Antrag meines Vaters anzunehmen, frage ich mich, während Kevin eine geeignete Stelle sucht, von der aus er den
Ehernen
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Reiter
auf der anderen Straßenseite am besten fotografieren kann. War es, praktisch veranlagt wie sie ist, der Wunsch nach einem besseren Leben: um meiner Schwester einen Vater zu bieten, ein weiteres Kind zu bekommen, in eine Großstadt zu ziehen? Oder war sie vielmehr vor irgendetwas weggelaufen? Schließlich war sie, wie ich aus einer ihrer Geschichten weiß, nach dem Krieg, nachdem ihr Onkel Wolja bereits verhaftet und erschossen worden war, ins Hauptquartier des NKWD in Iwanowo bestellt und dazu gezwungen worden, den Dekan der Anatomischen Fakultät, in der sie arbeitete, zu bespitzeln. Dr.   Slotnikow, Mojsej Dawidowitsch, ihr Doktorvater und Jude. Einmal im Monat musste sie eine gewisse Adresse aufsuchen (eine leere Wohnung, in der eine ganze Familie hätte untergebracht werden können, dachte sie verbittert), wo ein NKW D-Offizier mit einem Federhalter und einem Stapel unbeschriebener Blätter sie erwartete. Sie habe sich nicht weigern können, sagte sie, deshalb habe sie Monat für Monat diesen geheimen Ort aufgesucht und denkbar banale, harmlose Dinge, die irgendwie mit Dr.   Slotnikow zu tun hatten, zu Papier gebracht: etwa ein Gespräch über den Prozentsatz vergrößerter Schilddrüsen in der Textilfabrik von Iwanowo im Hinblick auf ihre Doktorarbeit, über den Mangel an Skalpellen in einer Sezierklasse, über den trunksüchtigen Sohn einer Laborassistentin. Dennoch habe ihr stets die Angst im Nacken gesessen, dass ihr diese harmlosen Worte wie Onkel Woljas Witz im Mund herumgedreht werden könnten; eine Verhaftung Dr.   Slotnikows hätte ihr Gewissen für den Rest ihrer Tage belastet.
    Ein Jahr lang kam sie einmal im Monat in diese Wohnung wie zu einem verbotenen, verwerflichen Rendezvous, das vor der anständigen Welt geheim gehalten werden musste, und füllte unter den Blicken des jungen NKW D-Mannes in Zivil eine Seite nach der anderen mit ihrer kantigen Handschrift. |240| Als ihr dann mein Vater einen Heiratsantrag machte und sagte, dass sie nach Leningrad würden umziehen müssen, sah sie darin nicht nur einen Ausweg aus ihrer freudlosen, provinziellen Vergangenheit, sondern auch eine Rückkehrmöglichkeit zu Anstand und Seelenfrieden.
    Zwei Jahre nach ihrem Umzug starb Stalin. Wieder einmal zeichnete sich am Horizont eine rosige Zukunft ab, ein weiterer Hinweis auf die leuchtende Morgenröte, die die Revolution verheißen hatte. Nach ihrem Umzug nach Leningrad fügte sich alles genau so, wie sie es sich ausgemalt hatte: Dr.   Slotnikow ging in den Ruhestand, ohne verhaftet worden zu sein; sie bekam ein Baby und eine Anstellung als Dozentin.
    Würde ich es je fertigbringen, von hier   – dem einzigen Ort, den ich kenne   – fortzuziehen, so wie meine Mutter aus Iwanowo weggezogen war? Eine Provinzstadt gegen die zweitgrößte Stadt des Landes einzutauschen, ist eine Sache. Doch welcher Ort würde Leningrad übertrumpfen können?
    Als Kevin fertig ist mit dem Fotografieren, möchte er an der Newa entlanggehen, vorbei an der Eremitage, vorbei am Winterkanal, wo Puschkins verzweifelte Lisa von der steinernen Treppe ins schwarze Wasser sprang. Wir gehen am schmiedeeisernen Zaun des Sommergartens

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