Goodbye Leningrad
vorbei, ein weiteres Puschkin-Wahrzeichen, ein Ort, an dem sich Onegin und auch der Dichter selbst besonders gern aufhielten. Doch Kevin hat noch nie etwas von Puschkin gehört und erzählt mir von Rugby und vom Autofahren, obwohl es nur schwer zu begreifen ist, wie man mit fünfzehn Jahren überhaupt an etwas so Unmögliches denken kann.
»Ich spare auf ein Auto«, sagt er.
Eine komische Vorstellung, dass man in seinem ganzen Leben je so viel sparen könnte, dass man sich ein Auto leisten kann. Ich kichere, worauf Kevins Augenbrauen sich fragend |241| zusammenziehen. Jetzt muss ich ihm erklären, dass ich mich nicht etwa über ihn lustig mache, weil er spart, sondern weil er sich ein Auto kaufen möchte. Ich lache, weil ich an einen Witz denken muss, den meine Schwester mir erzählt hat. Selbst in russischer Sprache ist es nicht leicht, einen Witz zu erzählen, und ich nehme all meine linguistischen Mittel zusammen, um ihn Kevin begreiflich zu machen.
Drei Autofahrer – ein Engländer, ein Ungar und ein Russe – fahren dieselbe Straße entlang. Der Engländer setzt seinen Wagen an einen Baum, steigt aus und wettert: »Verdammt, das Auto hat mich sechs Monatslöhne gekostet!« Der Ungar fährt gegen denselben Baum und schimpft: »Das Auto hat mich fünf Jahreslöhne gekostet!« Der Russe rast ebenfalls gegen den Baum und jammert: »Der Wagen kostet mich dreißig Jahreslöhne!« Der Brite dreht sich zu dem Russen um und fragt: »Warum kaufen Sie sich so ein teures Auto?«
Kevin kneift die Augen zusammen, und ich kann ihm beim angestrengten Nachdenken förmlich zusehen. Wahrscheinlich habe ich den Witz so schlecht übersetzt, dass ich ihm lieber erklären sollte, dass er nicht von teuren Autos handelt. Doch nach einer Weile schlägt er sich gegen die Stirn und grinst, obwohl ich mir nach wie vor nicht sicher bin, ob er ihn tatsächlich verstanden hat oder nur so tut.
Wir fahren mit der Metro zurück. Es ist halb acht, und ich möchte nicht, dass er zu spät zum Abendessen kommt. Von der Metrostation zum Hotel spazieren wir im Sonnenschein. In dieser Zeit der Weißen Nächte würde die Sonne noch weitere vier Stunden lang scheinen, bevor sie hinter dem Horizont abtaucht, um dann bereits nach einer Stunde erneut aufzugehen. Ohne die architektonischen Reize, die das Stadtzentrum zu bieten hat, geht uns der Gesprächsstoff aus.
»Darf ich dich fotografieren?«, fragt er schließlich, und ich |242| stehe errötend vor einem Durchgang, in dem eine weitere Babuschka, eine Straßenfegerin, mit einem Bündel Zweige, die an einem Stiel befestigt sind, auf das Pflaster eindrischt.
Als wir uns an das obligatorische Adressenaustauschen machen – Brieffreundschaft, wie Marja Michailowna es nennt –, wühlt Kevin in seiner Jeanstasche und zieht einen Armreif aus echtem Silber hervor, mit verschlungenen, brünierten Blumen, die in das Metall gestanzt sind. Ich kenne echtes Silber nur vom Teelöffelset meiner Großeltern, das meine Mutter zweimal im Jahr an Feiertagen aus einer mit Seide ausgeschlagenen Schachtel hervorholt. Kevin muss das Armband im
Berjoska
gekauft haben, während ich die Bücher anstaunte.
»Das ist für dich«, sagt er und setzt hinzu: »Bitte, nimm es.«
Ich habe noch nie Schmuck besessen, erst recht keinen aus echtem Silber. Es ist ein wahnsinnig großzügiges Geschenk, mein erstes Geschenk von einem Jungen, wenn ich die obligatorischen Radiergummis und Kämme, die ich in den acht Schuljahren am Internationalen Frauentag bekommen habe, nicht mitzähle. Ich spüre, wie ich rot werde, und bin sprachlos.
Das Armband funkelt auf meiner Handfläche und erinnert mich an meinen Sonderstatus, der es mir gestattet, einen
Berjoska -Laden
mit all seinen verbotenen Schätzen zu betreten. Aber ist es wirklich ein Privileg, vor Regalen zu stehen, die gefüllt sind mit Lebensmitteln, die ich nicht essen, und Büchern, die ich nicht lesen darf? Ich weiß darauf keine Antwort. Ich weiß nicht, ob es besser ist, aus meinem Lehrbuchtext mit der Überschrift »London: The City of Contrasts« etwas über Kevins Heimatstadt zu erfahren oder lieber einen Tag vor Ort zu verbringen, mit der U-Bahn zu fahren und Fotos zu machen. Ich weiß nur, dass all dieses Denken eben nur das ist: denken. Es ändert nichts. Egal wie viele Witze ich erzähle, egal wie zynisch ich geworden bin, so ist es eben hier. Entgegen der Hoffnung |243| meiner Mutter auf eine bessere Zukunft würde ich nie nach London reisen oder auf ein
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