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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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stelle Mikroskop-Objektträger her, die die Professoren für ihre Forschung verwenden. Das derzeit alles beherrschende Forschungsprojekt hängt mit der Raumfahrt und der Schwerelosigkeit zusammen. Etwa einmal jährlich sehen wir mit entsprechender Zeitverschiebung im Fernsehen, wie eine weitere Astronautenmannschaft nach einer weiteren erfolgreichen Mission irgendwo über Kasachstan mit dem Fallschirm abspringt, und unsere Anatomische Fakultät leistet ihren Beitrag in Form von Tierversuchen. Ljuba und ich holen Kaninchen aus ihren Käfigen im Kellergeschoss, schnallen sie an einer Zentrifuge fest und lassen sie mit Lichtgeschwindigkeit rotieren, bei der die Kaninchen sich zu undeutlichen weißgrauen Kreisen verwandeln. Wenn |249| sie, sobald die Zentrifuge anhält, noch am Leben sind, müssen wir sie mit Äther töten, denn die Forscher benötigen das Rückenmark der Kaninchen. Wir müssen ganz vorsichtig das Rückgrat aufbrechen, das weiche Rückenmark in einem Stück herauslösen, einfrieren und dann daraus Objektträger herstellen, indem wir es in dünne, durchsichtige Scheiben zerschneiden, die auf ein mikroskopisches Glasplättchen passen. Ich finde es schrecklich, den Kaninchen mit ihrem verklumpten, feuchten Fell ein äthergetränktes Tuch vor ihre Schnauze zu halten, während Ljuba es schrecklich findet, die Rückgrate zu brechen, deshalb teilen wir die Arbeit in einer Weise auf, die für uns beide erträglich ist.
    Wenn der Stapel mit den Objektträgern hoch genug ist, hocken wir uns auf unsere Schreibtische und plaudern mit Sascha, der klein ist, ein kantiges Kinn hat und immer einen weißen Arztkittel trägt. Sascha ist ein
aspirant
, ein Doktorand, in dessen Dissertation es wahrscheinlich um die Frage der organischen Veränderung des Rückgrats im Weltraum geht, weshalb er mehr Zeit als jeder andere in unserem Labor verbringt, ständig Witze erzählt und ständig lacht.
    »Treffen sich ein Russe, ein Deutscher und ein Jude«, sagt Sascha, und ich frage mich, ob ich den schon kenne, da es in Saschas Witzen immer um ein internationales Trio geht, das in etwa unsere Sicht der Welthierarchie wiedergibt. »Und Gott sagt zu ihnen, ich erfülle jedem von euch einen Wunsch, ganz gleich welchen. Töte alle Deutschen, ruft der Russe. Töte alle Russen, brüllt der Deutsche. Und was wünschst du dir, fragt Gott den Juden. Erfülle beiden ihren Wunsch, sagt der Jude, und ich trinke inzwischen eine Tasse Kaffee.«
    Ich kichere, doch Sascha beobachtet, wie Ljuba reagiert. Ich weiß, dass er Ljuba mag, die vierundzwanzig ist und schwarze Augen hat, größer als Mikroskoplinsen.
    |250| Ljuba schmunzelt pflichtgemäß über seine Witze, aber sobald Sascha den Raum verlässt, ist sie weniger großmütig. »Er ist verheiratet«, lächelt sie süffisant und macht eine abfällige Bewegung mit der Hand. »Außerdem hat er kurze Beine und sieht aus wie ein Affe.«
    Ljuba mag Professor Rodionow, der ebenfalls verheiratet, jedoch der größte Mann in der Fakultät ist und von Weitem dem französischen Schauspieler Alain Delon ähnelt. Sie legt ihre Zigarettenpausen gezielt ans Ende seiner Vorlesungen, so dass sie ihn, wenn er den Seziersaal verlässt, ganz beiläufig um Feuer bitten kann. Er ist höflich zu ihr, ohne je mehr zu tun, als ihre Zigarette anzuzünden. Ich glaube nicht, dass sie Chancen bei ihm hat, denn wie jedermann weiß, ist Professor Rodionow in Klassenfragen ein Snob und würde jemandem wie Ljuba, die außer dem Abschluss der weiterführenden Schule nichts vorzuweisen hat, niemals Beachtung schenken.
    Obwohl die unterschiedlichen Gesellschaftsklassen laut unserem Geschichtsbuch im Jahr 1917 gemeinsam mit dem Zaren abgeschafft worden sind, bildet Professor Rodionow sich etwas darauf ein, zur sogenannten »Bildungselite« zu gehören.
    »Eine klassenlose Gesellschaft«, sagt meine Schwester mit einem abfälligen Lächeln, »bedeutet, dass die verschiedenen Klassen einander ignorieren.«
    Um zwölf Uhr mittags macht eine Frau mit lockigem Haar namens Walja mit einem Kasten Milch die Runde. Da wir in einer gefährlichen Formaldehydumgebung arbeiten, steht jedem aus der Anatomischen Fakultät eine kostenlose Flasche Milch pro Tag zu. Walja hat für Sascha immer medizinische Fragen parat, die er ihr gern beantwortet, weil er, wie die meisten
aspiranti
, alles weiß. Gestern etwa erkundigte sie sich danach, ob eine Gallenblase tatsächlich Galle enthält, und am Tag zuvor, wie sich Warzen behandeln lassen. Heute

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