Goodbye Leningrad
nicht«, sagt meine Mutter. »Alex hat mir nur gesagt, dass du eine Unbedenklichkeitsbescheinigung brauchst.«
Das Ausstellen der Unbedenklichkeitsbescheinigung werde zwei Monate dauern, sagt Alex, aber in der Zwischenzeit könne ich trotzdem schon Entwürfe kopieren. Vielleicht sind es ja welche für veraltete U-Boote , die nicht länger geheim sind und ohne Bedenken meinen noch nicht geprüften Augen ausgesetzt werden dürfen. Ich sitze in einem riesigen Raum mit langen Tischen, neben einem langweiligen Mädchen mit schmalen Lippen und staubig aussehendem Haar, die arrogant ist, weil sie soeben ihre Bescheinigung erhalten hat. Manchmal zeichnen wir blaue Linien auf transparentes Zeichenpapier, doch meistens tragen wir aufgerollte Pläne zur Produktionsabteilung, in überhitzte Räume, so groß wie die Turnhalle meiner Schule, mit einer Reihe von Schmelzöfen, die von ungehobelten Männern bedient werden. Ich gehe zügig und blicke geradeaus, doch meine Absätze klappern auf dem Metallboden, auch wenn ich noch so sanft aufzutreten versuche, und die Männer glotzen anzüglich hinter den gewaltigen Maschinen hervor und feixen und rufen mir Dinge hinterher, die ich nicht hören möchte.
Bislang habe ich noch keine Boote oder irgendwelche Teile, die zu einem Boot gehören könnten, gesehen. Zu meiner Erleichterung habe ich auch Alex noch nicht gesehen.
Jeden Morgen um acht passiere ich einen Kontrollpunkt. Dann strömt die gesamte Fabrikbelegschaft durch ein Drehkreuz, weshalb wir häufig draußen in der Dämmerung in einer |247| kleinen Gruppe zusammenstehen und darauf warten, unsere Ausweise der diensthabenden Pförtnerin zu zeigen. Von ihrem Hochsitz neben der Tür aus starrt sie schweigend jeden Einzelnen von uns an und drückt ungehalten auf den Knopf, um das Drehkreuz zu entriegeln. Hin und wieder fängt sie an zu keifen, wenn jemand seinen Ausweis vergessen oder verloren hat. Ich weiß nicht, warum sie so ungehalten sein muss. Schließlich muss nicht sie bis fünf hinter der Fabrikmauer ausharren, wenn es erneut dämmert, wenn wir durch dasselbe Drehkreuz die Welt der geheimen Verschlusssachen wieder verlassen.
Jeden Morgen um acht summt in meinem Kopf eine Frage, so hartnäckig wie eine Fliege: Geht es bei der Arbeit nicht um mehr? Was ist aus dem Geist des Erwachsenseins und der Unabhängigkeit, aus der am Horizont schimmernden Verheißung geworden? Ich versuche, das Mädchen mit dem staubig aussehenden Haar zu fragen, doch sie versteht nicht, was ich meine. Sie zeichnet unverwandt dünne Linien und trägt die Rollen mit den Blaupausen in den Produktionsbereich, ohne den Männern und ihren anzüglichen Blicken und Pfiffen Beachtung zu schenken.
Ende Oktober regt sich in meinem Kopf ein beängstigender Gedanke, vor allem an den dunklen Morgen, wenn die gefrierende Mischung aus Regen und Nebel die Luft zu eisigen Aspikklumpen erstarren lässt, während wir draußen vor dem Kontrollpunkt stehen. Alles, was ich bisher getan habe, ist immer nur der Vorabend von etwas gewesen. Die achte Klasse war der Vorabend einer akademischen Laufbahn, als von meinen Klassenkameraden manche abgingen, um die Berufsschule zu besuchen; der nächtliche Spaziergang durch die Stadt nach Abschluss der weiterführenden Schule war der Ruf vor den Vorhang der Kindheit und der Vorabend zu einem Morgen, an dem die Jungs plötzlich groß und dreist wurden; der Marathon |248| der Aufnahmeprüfung zur Universität war der Vorabend zu Unabhängigkeit und Freiheit – all diese Dinge haben, auch wenn sie noch so nervenaufreibend und schwierig waren, zu etwas anderem geführt. Dieses Warten am Kontrollpunkt, das sich jeden Morgen in nur leicht abgewandelter Weise abspielt – jeweils mit einer anderen ungehaltenen diensthabenden Pförtnerin, die einen anderen Mann, der seinen Ausweis vergessen hat, beschimpft –, führt allein zum pockennarbigen Beton des Fabrikhofes, zur Cafeteria mit noch mehr ruppigen Frauen, die Kohlsuppe austeilen, zu Fließbändern ohne den geringsten Hinweis auf irgendwelche Schiffe.
Ich kündige am ersten November, nur wenige Tage bevor meine Unbedenklichkeit bescheinigt wird.
In den darauf folgenden acht Monaten arbeite ich als Laborassistentin in der Anatomischen Fakultät meiner Mutter. Ich bin zwischen diesen formaldehydgesättigten Wänden groß geworden, weshalb die Arbeit sich noch nicht einmal nach Arbeit anfühlt. Ich sitze in einem kleinen Raum einer weiteren Assistentin, Ljuba, gegenüber und
Weitere Kostenlose Bücher