Google-Mitarbeiter Nr. 59
lebendig zu sein.
Normalerweise verflüchtigte sich diese Euphorie so gegen 10 Uhr, wenn sich das Tröpfeln der eingehenden E-Mails in einen reißenden Strom verwandelte und die täglichen Meetings anfingen. Ich schlurfte von Gesprächen über neue Suchfeatures zu UI-Besprechungen und Produkt-Roadmap-Updates. Googles Uhr lief nach der Zeit eines Technologieunternehmens und die begann nicht vor 10 Uhr morgens und endete, wenn das Morgengrauen des nächsten Tages den Technikern rosarote Finger in die Augen stach. Um 7 oder 8 Uhr abends fuhr ich nach Hause, brachte die Kinder ins Bett und loggte mich von zu Hause ein, um Werbetexte zu schreiben oder Feuer zu löschen, die während der Stunde, in der ich offline war, ausgebrochen waren.
Jegliche Illusion eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Berufs- und Privatleben wurde unter mir weggesaugt wie Sand bei einsetzender Ebbe, dem ein Tsunami folgte. Kristen war nicht begeistert, aber sie verstand, dass ich dieses »Start-up-Ding« aus meinem System herausbekommen musste. Sie kümmerte sich darum, dass die Kinder aßen, etwas zum Anziehen hatten, bei der Hausarbeit halfen und sich von Drogen fernhielten.
Um eine gewisse Bindung zumeinen Sprösslingen zu halten, verbrachte ich freitags als freiwilliger Helfer eine Stunde bei ihrem Schulunterricht. Bei Google hatte niemand ein Problem damit, da ich mir, rein theoretisch, meine Zeit frei einteilen konnte.
»Solange du deine Arbeit getan bekommst«, erinnerte mich Cindy. Da die Arbeit nie aufhörte und nie auf ein Tagespensum begrenzt war, war sie nie »getan«. Ich schaffte es, nach dem Cablefest `99 die meisten Samstage arbeitsfrei zu halten, was im Klartext hieß, dass ich nicht vor Sonntagnachmittag arbeitete, wenn ich mich für den Montag rüsten musste. Es war nicht ungewöhnlich, dass ich eine dringende Mail oder einen Anruf erhielt, der mich am Samstag- oder Sonntagmorgen für eine Stunde wieder in den Arbeitsmodus versetzte.
»Möchtet ihr mit in Daddys Büro?«, fragte ich meine Söhne, die damals im Alter von neun bis zwölf Jahren waren, wenn ich an den Wochenenden ins Plex musste. Die Antwort lautete jedes Mal Ja. Im Büro war es für sie viel lustiger als zu Hause, das tragischerweise zuckerfrei war und wo es weder Videospiele noch Hüpfbälle oder Luft-Hockey gab. Ich setzte die beiden mit der Dreamcast-Spielekonsole in den Besprechungsraum und schrieb meine Durchwahl in großen Zahlen auf das Whiteboard. Es schien ihnen nichts auszumachen, Pappbecher mit Malzbonbons, M&Ms und Twizzlers zu füllen, vor dem Bildschirm zu sitzen und Malzbier zu trinken. Aber in meinem Herzen wusste ich, dass ich mit den beiden draußen sein und Ball spielen oder aus Sperr- oder Kantholz etwas Splitteriges bauen sollte. Aber wenn sonst schon nichts, dann vermittelte ich ihnen zumindest eine total verzerrte Vorstellung davon, was es hieß, »zur Arbeit zu gehen«.
Ich versuchte nicht etwa, den Chef mit meinem Fleiß zu beeindrucken. Ich versuchte lediglich, Schritt zu halten. Viele meiner überkoffeinierten Kollegen in den Twens waren von außerhalb der Bay Area hergezogen. Sie hatten hier keine Freunde, Bindungen oder Verwandte und oft nicht einmal einen Fernseher, der sie ablenkte. Sie hatten Google.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein Mitarbeiter von den Verlockungen des idyllischen »wahren Lebens« angezogen wurde, umschloss Google uns mit einem Kokon wesentlicher Dienstleistungen – auf dem Gelände gab es einen Friseur, eine Autowaschanlage, einen Zahnarzt und einen praktischen Arzt, kostenlose Massage, kostenlose Snacks, kostenloses Mittag- und Abendessen, Spielgruppen, Filmabende, Wein- und Bierklubs, technische Vorträge und Gesprächsrunden mit bekannten Rednern. Und wo du auch hinsahst, intelligente Gesellschaft. Wenn die Stadtregierung von Mountain View unser Gebäude nicht als gewerbliches Gebäude deklariert hätte, wären viele Googler aus ihren Appartments ausgezogen, um hier eine Plex-Biosphäre zu gründen.
George Salah und das Hausmeisterteam verpassten der Lobby ein neues Aussehen: Zwei leuchtend rote Sofas mit flauschig abgerundeten Ecken flankierten einen gläsernen Beistelltisch in Form eines Surfbretts, ein paar große Farne, einen Spiegel und ein paar Lavalampen. Sie verkleideten die Fahrstuhltüren mit einfarbigen metallischen Rechtecken, installierten einen Kühler für Bio-Fruchtsäfte und hängten eine Neon-Version des Google-Logos ins Treppenhaus, wie das Willkommenszeichen in einem
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