GOR-Zyklus 02 - Der Geächtete von Gor
hatten, wie sie nur wenige Menschen zu Gesicht bekamen.
Mir kam der Gedanke, daß ich, Tarl von Ko-ro-ba, ein Sterblicher, hier auf dieser Straße in dieser unruhigen Nacht vielleicht in das Gesicht eines Priesterkönigs schaute.
Während wir uns so ansahen, ließ das Unwetter nach, das Zucken der Blitze hörte auf, der Donner grollte nicht mehr in meinen Ohren. Der Wind beruhigte sich. Die Wolken hatten sich verzogen. In den kalten Wasserpfü t zen auf der Straße spiegelten sich die drei Monde Gors.
Ich wandte mich um und schaute über das Tal, in dem Ko-ro-ba gelegen hatte.
»Du bist Tarl aus Ko-ro-ba«, sagte der Mann.
Ich war verblüfft. »Ja«, sagte ich. »Ich bin Tarl aus Ko-ro-ba.« Ich schaute ihn an.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte er.
»Bist du«, fragte ich, »ein Priesterkönig?«
»Nein«, erwiderte er.
Ich musterte diesen Mann, der so sehr wie ein gewöh n licher Mensch wirkte, der aber mehr sein mußte.
»Sprichst du für die Priesterkönige?« fragte ich.
»Ja«, sagte er.
Und ich glaubte ihm.
Es war natürlich nichts Ungewöhnliches, daß die Wi s senden den Anspruch erhoben, für die Priesterkönige zu sprechen; tatsächlich war es nach eigener Meinung die Aufgabe ihrer Kaste, dem einfachen Menschen den Wi l len der Priesterkönige begreiflich zu machen.
Doch diesem Manne glaubte ich.
Er war nicht wie die anderen Wissenden, auch wenn er ihre Robe trug.
»Gehörst du der Kaste der Wissenden an?« fragte ich.
»Ich bin ein Mann, der den Willen der Priesterkönige für die Sterblichen interpretiert«, sagte der Mann, ohne auf meine Frage einzugehen.
Ich schwieg.
»Von nun an«, sagte der Mann, »bist du Tarl aus keiner Stadt.«
»Ich bin Tarl aus Ko-ro-ba«, sagte ich stolz.
»Ko-ro-ba wurde vernichtet«, sagte der Mann. »Es ist, als hätte es diese Stadt nie gegeben. Ihre Steine und ihre Einwohner sind bis in die entferntesten Winkel der Welt verstreut worden, und es darf nie geschehen, daß zwei Steine oder zwei Menschen aus dieser Stadt jemals wi e der zusammentreffen.«
»Warum wurde Ko-ro-ba vernichtet?« wollte ich wissen.
»Es war der Wille der Priesterkönige«, sagte der Mann.
»Doch warum war es der Wille der Priesterkönige?« rief ich.
»Weil es ihr Wille war«, sagte der Mann, »und es gibt nichts, was den Willen der Priesterkönige in Frage stellen kann.«
»Ich erkenne ihren Willen nicht an«, sagte ich.
»Unterwirf dich«, sagte der Mann.
»Nein!«
»Dann sei es«, sagte er. »Du bist von nun an dazu ve r urteilt, allein und ohne Freunde die Welt zu durchstre i fen, ohne Stadt, ohne Mauern, die du die deinen nennen kannst, ohne Heimstein, den du ehren könntest. Du bist ab sofort ein Mann ohne Stadt, du bist eine Warnung für alle, die sich dem Willen der Priesterkönige widersetzen wollen – doch ansonsten bist du nichts.«
»Was ist mit Talena?« rief ich. »Was ist mit meinem Vater, meinen Freunden, den Einwohnern meiner Stadt?«
»In alle Winkel der Welt zerstreut«, sagte die eing e hüllte Gestalt, »und keine zwei Steine dürfen wieder z u sammentreffen.«
»Habe ich den Priesterkönigen nicht bei der Belag e rung Ars gedient?« fragte ich.
»Die Priesterkönige haben dich für ihre Ziele eing e setzt, wie es ihnen beliebte.«
Ich hob meinen Speer und spürte, daß ich die Gestalt, die da gelassen und erschreckend vor mir aufragte, m ü helos hätte umbringen können.
»Töte mich, wenn das dein Wunsch ist«, sagte der Mann.
Ich senkte die Speerspitze. In meinen Augen standen Tränen. Ich war ratlos. War die Stadt meinetwegen unte r gegangen? Hatte ich ihren Einwohnern Unglück gebracht – meinem Vater, meinen Freunden und Talena? War ich zu ahnungslos gewesen, hatte ich nicht begriffen, daß ich im Griff der Priesterkönige ein Niemand, ein Nichts war? Sollte ich nun über die verlassenen Straßen und Felder Gors wandern, schuld- und qualbeladen, ein unglückliches Beispiel für das Schicksal, das die Priesterkönige für alle Narren und stolzen Menschen bereithielten!
Dann plötzlich gab ich mein Selbstmitleid auf, und ich war schockiert, denn als ich nun in die Augen des ve r hüllten Mannes blickte, sah ich menschliche Wärme da r in, sah ich Tränen. Mitleid, das verbotene Gefühl, schimmerte in diesen Augen, eine Regung, die er nicht unterdrücken konnte. Die Macht, die ich in seiner G e genwart verspürt hatte, schien seltsamerweise ve r schwunden zu sein. Nun sah ich nur noch einen Mann vor mir, einen Mitmenschen, der
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