Gordon
als ich hereinkam, ein Buch, das ich ihm geliehen hatte. Ich hatte das schon mehrmals getan in dem Bestreben, ihn zu bilden, da er für meine Begriffe erschreckend wenig über Literatur wusste. Gewöhnlich gab er mir das Buch mit einer abfälligen Bemerkung zurück, die mich zugleich ärgerte und amüsierte – wie zum Beispiel, als er über Tod in Venedig sagte: »Anscheinend braucht man bei Thomas Mann also doch noch nicht jede Hoffnung aufzugeben.«
Das Buch, das er mir an jenem Tag zurückgab, war die Bibel des dekadenten Fin de siècle, Huysmans Gegen den Strich, und wie sich zu meinem Erstaunen herausstellte, war er davon äußerst angetan; kaum war ich im Zimmer, fing er an, darüber zu sprechen. Während ich ihm zuhörte, erkannte ich, wie wenig ich selbst von dem Buch verstanden hatte und dass sein Urteil, verglichen mit meinem, wie ein Röntgenbild im Vergleich zu einem Foto war.
Nachdem er das Gerüst von Huysmans Psychologie herausgearbeitet hatte, erklärte Gordon, das Buch enthalte die Schilderung eines Traums, die auf jeden Fall so hervorragend sei, dass es das Werk schon allein deswegen verdienen würde, gelesen zu werden.
»Was ist denn so Besonderes daran?«, fragte ich.
»Sagen Sie nicht ›Besonderes‹, sagen Sie ›besonders‹«, antwortete er.
»Ja«, sagte ich.
»Es ist die klassische Angst vor der Vagina dentata«, sagte er.
Ich war betroffen, wusste nicht genau, was das Wort bedeutete, aber doch genug, um schockiert zu sein.
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Hat sie Zähne, oder was?«
»Wissen Sie es nicht?«, sagte er. »Nein, wahrscheinlich nicht, mein armes Kind. Es ist wie diese Zeitschrift, For Men Only. Es ist die Angst des Mannes vor der Frau. Die Frau hat Zähne in ihrem Inneren, und wenn er eindringt, beißt sie ihm den Penis ab und verstümmelt ihn.«
»Ich habe noch nie etwas Derartiges gehört!«, sagte ich.
»Ich bin ekelhaft, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich, »und nicht nur ekelhaft, schlimmer. Ich weiß nicht, wie Sie auf solche Einfälle kommen.«
»O weh, O weh, jetzt werde ich wieder bestraft! Herrje, womit habe ich das bloß verdient?«, rief er mit der schrillen Stimme des verstoßenen Liebhabers aus, womit er mich regelmäßig zum Lachen brachte. »Apropos«, fuhr er fort, »heute war ein Hauptmann a. D. bei mir. Und er hatte Folgendes:« – und sein Gesicht wurde von einem heftigen, komplizierten Zucken erfasst, an dem ein Auge und die eine Seite des Mundes beteiligt waren –, »aber es ging ihm schon viel besser als früher«, und er sah mich mit einer Miene an, als überraschte ihn mein Lachen zutiefst. »Ich habe ihn nicht angenommen«, fügte er hinzu. »Er gefiel mir nicht. Aber wissen Sie, mein Malteser blüht richtig auf!« Und in eine heisere Bassstimme verfallend: »Herr Doktor, ich wünsche mir einen schlanken Jungen mit einem großen Schwanz. Aber Herr Doktor, es geht dabei nicht um Sex, es geht nur um Ästhetik!« Und als ich vor Lachen loskreischte, fuhr er fort: »Was er sich tatsächlich wünscht, ist, zwei solche ästhetische Jungs aufzugabeln und sich zwischen sie zu quetschen.«
»Unglaublich«, sagte ich fassungslos.
»Ah, jetzt tun Sie schockiert«, bemerkte er, »aber der Himmel weiß, was Sie mit sich anstellen, wenn ich Sie nicht im Auge habe!«
Ich lachte wieder, aber diesmal war mein Lachen gezwungen. Er beobachtete mich mit diesem hungrig faszinierten Blick, als liege er auf der Lauer.
»Ach, seien Sie nicht albern!«, sagte ich und senkte den Kopf.
Wenn er das meinte, was ich dachte, dann irrte er sich. Ich hatte es nicht ein Mal getan, seitdem ich ihn kennen gelernt hatte. Ich hatte kein Verlangen danach, und selbst wenn doch, hätte ich es nicht gewagt aus Angst, er könnte es erraten. Sein Wissen darum hätte mich entsetzlich in Verlegenheit gebracht, auch wenn er es wahrscheinlich mit dem gleichen Amüsement betrachtet hätte, mit dem er die bizarren Verirrungen seiner Patienten zur Kenntnis nahm. So weit, so gut. Aber abgesehen davon war mein Gewissen durchaus nicht rein, und ich sagte mir trotzig, dass es Bereiche meines Lebens gab, in die ich ihn, mochte er noch so graben und bohren, niemals einlassen würde.
Als habe er den ersten Teil meines Gedankens gelesen, sagte er, während er sich von mir entfernte und auf das Fenster zuging: »Mit sich selbst zu spielen ist eine erbärmliche Sache«, und als ich stumm blieb, wiederholte er, aus dem Fenster blickend: »Eine äußerst erbärmliche Sache.«
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