Gordon
hässlichen Kleiderständer aus rot lackiertem Holz, mit Messingsprossen und einem für die Aufnahme von Spazierstöcken und Schirmen bestimmten Messingtrog. Es war ein durch und durch unenglisches Objekt, und die Lippen schürzend, sagte ich mir, dass sie diesen Schatz aus Berlin mitgebracht haben musste.
»Aber Sie sind ja in einem schrecklichen Zustand!«, rief sie aus, indem sie meinen Mantel nahm.
Ich sah Gordon an, der gerade aus seinem schönen dunkelblauen Mantel mit dem schmalen Samtkragen schlüpfte. Er sah genauso aus wie immer, weder was seine Kleidung noch was seine Frisur anbelangte anders als sonst, und ich konnte an seinem dunkelblauen Anzug und Schlips und seinem gewohnten weißen Hemd (ich hatte ihn noch nie mit einem andersfarbigen Hemd erlebt) nichts auszusetzen finden. Er beobachtete mich mit einem Lächeln tiefer Befriedigung, während Leonie Beck dabeistand und noch immer meinen Mantel in den Händen hielt.
»Aber entsetzlich!«, rief sie im Ton einer empörten Mutter aus. »Sie sind in einem schockierenden Zustand!«
»Wer? Was?«, fragte ich.
Sie hängte meinen Mantel auf einen Kleiderbügel und fing an, die Hände zu ringen. »So schauen Sie sich doch nur an!«, rief sie, noch immer händeringend.
Es war kein Spiegel da. Ich fasste mir an den Nacken, wo, wie ich aus Erfahrung wusste, der Zerfall der Gesittetheit immer als Erstes einsetzt. Ich fühlte ein paar lose Haarsträhnen und stopfte sie hastig unter meine fest hochgesteckten Zöpfe.
»Aber so sehen Sie sich doch nur an!«, wiederholte sie eindringlich, ungeduldig und gleichsam mit entsetzter Ungläubigkeit.
Ich sah an mir herunter.
In meinen Strümpfen waren Löcher, wie ich sie noch nie gesehen hatte, runde Löcher von der Größe von Kuchentellern, aus denen eines meiner Knie und meine Waden unanständig nackt hervorsahen. Mein anderes Knie war zwar bedeckt, aber mit geronnenem Blut gestreift. An einer Seite meines Rocks klaffte ein Riss, der den Blick auf ein Dreieck Unterkleid freigab; darunter flatterte ein Stück abgerissenen Saums, und als ich den Kopf verdrehte und mir über die Schulter blickte, sah ich, dass der Saum aufgetrennt war, soweit mein Auge reichte. Vorn, etwas seitlich versetzt, hing mein Unterkleid tiefer als der Rock; auf dieser Seite musste der Träger gerissen sein.
Ich beugte mich vor und strich mir ein paar Hobelspäne von den Knien und zupfte mir ein paar Holzsplitter vom Rock. Als ich über meine andere Schulter spähte, sah ich auf dem unteren Teil des Rocks Flecke von grünlichem Schleim; es mochten Spuren von verfaultem Gemüse sein.
»Wo sind Sie denn gewesen? Was haben Sie nur getrieben?«, rief Leonie Beck.
Ich richtete mich wieder auf und sah Gordon an. Er sah mich an, und sein Lächeln ging noch mehr in die Breite. Ich warf den Kopf zurück und sah ihn weiter an, während sie wiederholte: »Was haben Sie nur getrieben?«
»Wir sind auf dem Friedhof gewesen«, sagte Gordon langsam und nachdrücklich, ohne den Blick von mir abzuwenden.
»Auf dem Friedhof? Ist es denn möglich? Jetzt, um diese Uhrzeit?«, rief sie aus. »Ich hätte gedacht – «
»Ja, auf dem Friedhof«, sagte ich und schlug die Augen nieder.
»Aber was soll ich jetzt mit Ihnen machen?«, jammerte sie unter Tränen.
Ich warf Gordon einen Blick zu.
»Genau das, weswegen Sie uns eingeladen haben«, sagte er. »Wollen wir nicht hineingehen? Kommen Sie, mein armes Kind.«
Während die noch immer aufgelöste Leonie Beck die Vorstellungen hinter sich brachte, setzte sich Gordon auf die niedrige breite Fensterbank am anderen Ende des Raumes, weitab von den übrigen Gästen, und bedeutete mir, mich auf den Boden zu seinen Füßen zu setzen. Ich gehorchte und rührte mich für den Rest des Abends nicht von der Stelle.
So nah bei ihm zu sitzen, von den anderen abgesondert, in einer Position der Gefangenschaft, Abhängigkeit und Hörigkeit, beruhigte und beschwichtigte mein Herz, ebenso wie sich mein Körper schlagartig beruhigt hatte, kaum dass ich von Gordon an der Ecke der Frith Street eingeholt worden war und ich gespürt hatte, wie sich seine Finger um meinen Puls schlossen.
Eingehüllt in mein herrliches Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, ließ ich meinen Blick müßig durch den Raum schweifen, wobei ich feststellte, dass die Tische, Schränkchen und Bücherregale durchweg aus rot lackierten Holzwürfeln bestanden, desgleichen die Blumenständer, die wie kleine Treppen aufgebaut waren, auf deren Stufen jeweils
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