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Gordon

Gordon

Titel: Gordon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Templeton
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Wenn die Leute nur begreifen würden … Ach, was soll’s, es ist verlorene Liebesmüh! Wir tun, was wir tun müssen. Und momentan müssen wir essen gehen. Machen Sie sich fertig, mein armes Kind. Aber gehen Sie erst lu-lu machen.«
    Er ging mit mir nach Soho, in ein italienisches Restaurant, in dem wir seit vielen Wochen nicht mehr gewesen waren.
    Er bestellte einen bollito misto – was wir beide mochten – aus Rind, Huhn, Zunge, Brühwurst, Karotten und Kartoffeln, alles mild gekocht und belebt von einer dicken grünen Sauce voll würziger fein gehackter Kräuter. Anschließend nahmen wir Bei Paese; er war schon ziemlich reif, und nachdem Gordon seine Portion aufgegessen hatte, legte ich ihm meine nur angefangene Scheibe auf den Teller.
    Er aß sie und sagte: »Sie tun sich bei mir mittlerweile keinen Zwang mehr an, habe ich Recht? Alles, was Sie nicht mögen, schieben Sie einfach mir auf den Teller.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Und das Schlimmste ist, ich nehme es an«, fügte er hinzu, »so dass Sie sich, trotz allem, recht wohl bei mir fühlen, oder?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Es kommt nicht oft vor, dass Sie Recht haben, aber diesmal haben Sie Unrecht«, bemerkte er. »Es ist nicht trotz allem. Es ist wegen allem.«
    Und als ich ihn schweigend ansah, fuhr er fort: »O ja. Traurig, aber wahr. Trinken Sie Ihren Wein aus.«
    Nachdem der Kellner den Teller mit der Rechnung und dem Geld mitgenommen hatte, sagte Gordon: »Ich muss wieder in die Analyse.«
    »Warum Sie?«, fragte ich. »Sie sind doch Arzt. Sie sind kein Patient.«
    »Reden Sie keinen Blödsinn«, sagte er. »Wie damals, als Sie glaubten, Ärzte seien gegen Geschlechtskrankheiten immun.«
    »Ja, aber – «, sagte ich.
    »Aber was?«
    »Sie müssen doch geistig sehr gesund und ausgeglichen sein«, sagte ich, »sonst könnten Sie Ihre Spinner nicht behandeln!«
    »Nach dieser Logik könnte man auch sagen, Praxiteles muss so schön wie ein griechischer Gott gewesen sein, sonst hätte er seinen Hermes nicht schaffen können.«
    »Aber was versprechen Sie sich davon?«, fragte ich. »Das haben Sie doch schon alles hinter sich. Wollen Sie sich noch weiter qualifizieren?«
    »Nein«, sagte er, »aber ich muss trotzdem wieder hin. Ich muss herausfinden, was mit mir passiert.«
    Ich verstand nicht, und ich wagte nicht, weitere Fragen zu stellen – genauso wie ich nicht gewagt hatte, ihn zu fragen, über welche Dinge wir streiten würden, wenn wir geheiratet hätten. Die feiertäglich vertrauliche Stimmung war dahin. Sie war schon in seinem Zimmer dahin gewesen, mit seinem »wir tun, was wir tun müssen«.
    Er schwieg, bis der Kellner mit dem Wechselgeld zurückkam.
    Ich folgte ihm in die Garderobe, wo die Angestellte das kleine Gedächtniswunder vollbrachte, mit dem jedes gute Restaurant seine Gäste erfreut.
    »Ich begreife nie, wie das möglich ist«, rief ich aus, als wir zur Treppe gingen. »Wie kann sie sich erinnern, welcher Mantel wem gehört? Und ohne sich jemals zu irren!«
    »Ich glaube, man kann sie richtig hernehmen«, bemerkte Gordon »aber sie ist grob. Jede Frau ist im Vergleich mit Ihnen grob, mein süßes Kind.«
    »Ihr neuer Mantel gefällt mir sehr gut«, sagte ich, von der Seligkeit durchflutet, die mir seine seltenen Komplimente schenkten. »Ist er vom selben Mann am Hanover Square?« Ich wusste, dass er erst kürzlich bei seinem Schneider gewesen war, aber er hatte nur von einem Anzug gesprochen, den er in Auftrag gegeben hatte. »Ja«, sagte er.
    Wir traten hinaus auf die Straße.
    »Und er hat mich auf einen melancholischen Gedanken gebracht, mein armes Kind«, fügte er hinzu; »mein letzter Mantel hat sechs Jahre gehalten. Jetzt habe ich mir diesen machen lassen. Und nach diesem – wird es vielleicht noch einen geben. Vielleicht.«
    Das war eine dieser Bemerkungen, die ich zwar verstand – sie war nicht schwer zu verstehen –, deren Wahrheit ich aber nicht nachzuvollziehen vermochte. Es verhielt sich damit wie mit all den elisabethanischen Gedichten, die ich kannte – mit ihrem Wispern, Murmeln, Deklamieren, Jammern angesichts des Gedankens an den nahenden Tod –, und die es trotz ihrer wunderbaren Wortpracht niemals schafften, mich zu berühren. Ich war zu jung, um dieses Grauen spüren zu können. Warum sollte er außerdem schon so bald sterben?, fragte ich mich. Er ist völlig gesund. Und ich blieb stumm, da ich mir sicher war, dass jede Bemerkung, die ich hätte machen können, mich in die Schar seiner »dummen Frauen«

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