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Gordon

Gordon

Titel: Gordon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Templeton
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Aufmachung – schwarzes Jackett, graue Weste und gestreifte Hose, dazu eine goldene Uhrkette, die an seiner Taille glitzerte – war er das Abbild des Facharztes meiner Kindheit; er war der Inbegriff dessen, was Bedienstete gern »so ein lieber guter alter Gentleman« nennen. Für »lieb« hielt ich ihn allerdings nicht.
    Der Haupteindruck, den er bei mir erweckte, war der von Macht, und seine milde, ruhige Art ließ mich an jene berühmten Opernstars denken, die es fertig bringen, einen kaum hörbaren Pianissimo-Triller zu hauchen und einen dennoch spüren zu lassen, dass die potentielle, verborgene Kraft ihrer Stimme überwältigend ist.
    Er verließ den Tisch und kam auf mich zu.
    »Möchten Sie sich nicht setzen?«, sagte er.
    »Danke«, sagte ich und nahm auf dem Stuhl Platz, auf den er gedeutet hatte.
    »Rauchen Sie?«, fragte er.
    »Ja, danke«, sagte ich.
    Nachdem er mir und sich Feuer gegeben hatte, blieb er stehen. »Und was kann ich für Sie tun?«, fragte er.
    Ich sagte: »Mein Mann hat gesagt, ich sei verrückt und sollte mir den Kopf untersuchen lassen.«
    Er lachte geringschätzig.
    »An Ihrer Stelle würde ich dem keinerlei Beachtung schenken«, sagte er. »Ehemänner sagen gern solche Dinge.«
    »Aber das ist nicht der Grund, warum ich gekommen bin«, sagte ich, indem ich die Augen hob und ihn dabei ansah, wie er sich auf die lange harte Couch setzte – die gleiche altmodische Couch, die ich in Gordons Sprechzimmer in der Walbeck Street gesehen hatte, als ich, zum ersten und einzigen Mal, dort gewesen war; sie war mit zimtbraunem Kord bezogen, und auf dem aufgewölbten Kopfende war ein Zigarettenbrandfleck. Er kann nicht übermäßig pingelig sein, wenn er das nicht flicken lässt, dachte ich bei mir.
    »Ich wollte Sie fragen, warum Gordon starb.«
    »O, Gordon«, sagte er und stand auf, »Gordon.«
    Er stand aufrecht da, die Hände in den Taschen, und legte den Kopf in den Nacken.
    »Ich wusste anfangs gar nicht, dass er gestorben war«, sagte ich, »möglicherweise hätte ich es nie erfahren. Ich hörte erst viel später davon – durch einen merkwürdigen Zufall. Und danach sah ich Gordon wochenlang auf den Straßen, wie er auf mich zuging und immer näher kam. Aber es war nicht Gordon, es war irgendein wildfremder Mann, der ihm nicht einmal ähnlich sah, und ich musste mir jedes Mal sagen: ›Mach dich nicht lächerlich, das ist nicht Gordon, das kann nicht Gordon sein, denn Gordon ist tot.‹«
    »Finden Sie das merkwürdig?«, fragte er.
    »Ja«, sagte ich, »Sie nicht?«
    »Nein«, sagte er.
    »Vielleicht war es so etwas wie eine Strafe«, sagte ich, »dafür, dass ich, als ich davon hörte, überhaupt nichts empfand. Ich war völlig herzlos, ich kann es gar nicht verstehen. Aber andererseits war ich natürlich nicht darauf vorbereitet gewesen.«
    Es war am frühen Nachmittag eines milden sonnigen Tags im September gewesen. Ich betrat das Haus in Camden Hill und stieg vorsichtig die Treppe hinauf, damit die Zeitungen nicht verrutschten, mit denen die Stufen bedeckt waren; sie waren mit einem venezianischroten Läufer ausgelegt, passend zu den neuen Brokattapeten. Die Farbe gefiel mir nicht. Die hatte der Amerikaner ausgesucht, mit dem ich damals zusammenlebte.
    Auf dem Treppenabsatz kam mir einer der Arbeiter entgegen, die den ersten Stock renovierten.
    »Es hat jemand für Sie angerufen, Madam, während Sie nicht da waren«, sagte er, »Sie sollen zurückrufen.« Und während er mir in das vordere Zimmer vorausging, brüllte er seinem Kumpel zu: »Wo hast du es aufgeschrieben? Du hast es doch notiert, oder?«
    Der Kumpel, der auf einer Trittleiter stand, drehte sich auf dem Absatz herum und hob die Augen zur Decke. »Es steht in der Ecke da drüben«, sagte er und las mir die Nummer vor. Es war eine Nummer mit der Amtsvorwahl Walbeck. Ich lachte über seine Weise, Anrufe zu notieren, und ging ins angrenzende Zimmer, wo das Telefon auf einem Küchenstuhl stand.
    Es meldete sich ein Mann mit einer fröhlichen Stimme, die ich auf eine zweitklassige Public School taxierte, Uppingham, Radley oder vielleicht Lancing.
    Ich nannte ihm meinen Namen und den Grund meines Anrufs.
    »Was für einen bezaubernden Namen Sie haben!«, sagte er. »Louisa. Äußerst faszinierend.«
    »Aber er sagt Ihnen nichts, habe ich Recht?«, fragte ich.
    »Leider nicht«, sagte er.
    »Dann muss ein Irrtum vorliegen«, bemerkte ich und wollte schon auflegen, als er, der offensichtlich nichts zu tun hatte und ein wenig

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