Gordon
und meine Hoffnungslosigkeit in Raserei umgeschlagen war. Mir wurde bewusst, dass ich ohne Antworten auf meine Fragen nicht mehr weiterleben konnte: Warum warf er mich hinaus? und: Warum nahm er sich das Leben?
Am Abend zuvor war ich mit meinem Mann im Kino gewesen und hatte einen französischen Film gesehen, dessen Hauptdarsteller Gordon ähnelte. Während der Nacht hatte ich von Gordon geträumt. Ich hatte noch nie zuvor von ihm geträumt, und was noch schlimmer war: Im Traum hatte er mich rücklings auf seine Knie gelegt, hatte mich sehnsüchtig und heiß auf die Lippen geküsst und gesagt: »Ich werde Sie jetzt mit zu mir nach Hause nehmen. Ich werde Sie für den Anfang sechs Wochen lang gefangen halten, und ich werde Sie nie wieder loslassen.«
Ob meine wütende Verzweiflung durch das Bild Gordons ausgelöst wurde, der mir nie im Traum erschienen war, oder ob sie daher rührte, dass ich geträumt hatte, von ihm, der mich zu seinen Lebzeiten niemals geküsst hatte, geküsst zu werden, konnte ich nicht sagen.
Im Laufe einer einzigen Nacht hatte der unterirdische Strom das Erdreich, unter dem er die letzten acht Jahre lang ruhig und trüb dahin geflossen war, ausgewaschen, war über die Ufer getreten und überflutete und überschwemmte jetzt mein Leben.
Drei Monate lang versuchte ich gegen die reißenden Fluten anzukämpfen. Ich regte mich weiterhin auf, wenn ich nach einem Messer verlangte und das Mädchen es statt auf einem Tablett in der Hand brachte. Ich amüsierte mich weiterhin, als der Gärtner mir zu Weihnachten einen Strauß Orchideen überreichte, die die Gräfin Almeida, als sie zum Dinner kam, prompt als aus dem Gewächshaus ihrer Freundin, Mrs. Warburton, gestohlen wieder erkannte. Ich fragte weiterhin die Köchin, ob ich eigens für sie ein zusätzliches Mädchen anstellen sollte, das die Türen hinter ihr schloss und die Lichter ausschaltete.
Aber ich nahm an derlei Ereignissen keinerlei inneren Anteil mehr; genauso wenig schaffte ich es, auch nur ein einziges Buch zu lesen, sondern starrte lediglich geistesabwesend auf die gedruckte Seite. Ebenso wie ich, wenn ich Gäste hatte, nicht mehr auf den Klatsch hörte und der Unterhaltung keine Aufmerksamkeit mehr schenkte.
Die Bande des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens rieben sich mehr und mehr ab und wurden mit jedem Tag dünner und dünner. Die Verzweiflung, die in mir wütete, entzog mich zunehmend der Außenwelt. Ich begann, die Bedeutung des Wortes »entfremdet« zu verstehen; ich wurde allmählich zu einer Fremden, einer Außenseiterin, ohne dass jemand mich dazu gemacht hätte und gegen meinen eigenen Willen.
Ich begriff, dass es eine einzige Möglichkeit für mich gab, wieder zu meinem Frieden zu finden: Es war an der Zeit, »die Dose Cornedbeef aus dem Tiefkühlfach zu holen«: Ich musste Dr. Crombie aufsuchen.
Im Laufe der letzten acht Jahre, seit Gordons Tod, hatte sich Dr. Crombies Bild nicht verändert, er selbst hatte allerdings erheblich an Bedeutung gewonnen. Ich hatte mir angewöhnt, wenn ich in einen Buchladen oder eine Bibliothek ging, jedes Buch über Psychiatrie, auf das mein Blick fiel, aus dem Regal zu holen, hinten das Register aufzuschlagen und nach dem Buchstaben C zu suchen. Und jedes Mal war er da, der groß gewachsene, stämmige, kurzhalsige, knollennasige, bösäugige, argwöhnische, eitle, herrische, selbstgerechte, erfahrene Dr. Crombie.
Er wurde in ausnahmslos jedem – britischen wie amerikanischen – Werk zitiert, meist anerkennend, gelegentlich spöttisch; aber da war er immer. Und hinsichtlich der guten Qualität meiner »Dose Cornedbeef«, meiner eisernen Ration, beruhigt, stellte ich das Buch an seinen Platz zurück.
Als mein Mann mich fragte, wie lange ich in London zu bleiben gedenke, sagte ich, ohne zu zögern: »Sechs Wochen«, und erkannte erst, nachdem ich geantwortet hatte, dass diese »sechs Wochen« meinem Traum entstammten, den Worten, die Gordon darin gesprochen hatte.
Als mein Mann mich fragte: »Wo willst du wohnen?«, sagte ich, wieder ohne zu zögern: »Im Belgrave Park Hotel«, und wieder erkannte ich erst im Nachhinein, dass dies damit zusammenhing, dass das Belgrave Park Hotel in meiner Vorstellung mit Täuschung, Untreue, Betrug und dem Versuch, den eigenen Ehemann zu verlassen, verknüpft war.
Dass ich diesmal nicht die Absicht hatte, meinen Mann zu verlassen, und dass ich nicht offen für die Möglichkeit war, einen Liebhaber zu finden, spielte keine Rolle. Ich hegte die
Weitere Kostenlose Bücher