Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
Wenige auf das Jagen.
Knirschend bahnen sich meine Schritte ihren Weg durch die weggeworfenen Abfälle einer Konsumgesellschaft, deren Annehmlichkeiten ich nie richtig erfahren habe.
Nun, ich lebe zwar, aber das ist auch das einzige Recht, das ich besitze.
Das Recht zu leben und dabei die verpestete Luft einzuatmen, die von dem Müll aufsteigt.
Der Geruch von Fäulnis, Krankheit und Tod.
Hier gibt es nur noch tote Dinge, und das meine ich nicht nur im übertragenen Sinne. Außer den Menschen, die das Schicksal hierher verschlagen hat und den Ratten und Maden, für die das gleiche gilt, gibt es hier nichts, das noch etwas mit Leben zu tun hat.
Und hier existiert nichts, was noch seine ursprüngliche Funktion ausübt, abgesehen von den verschimmelten Resten in den Konservendosen, von denen wir an diesem Ort in der Hauptsache ernähren.
Es ist wahrhaftig ein Ozean, in dem ich lebe, und dieser Ozean ist bekannt als das Meer des Mülls. Nur kann kein Mensch, der hier noch nicht hier gewesen ist, sich die unendliche Weite vorstellen, die von den Wellen aus verrostetem Blech, zerbrochenem Glas, verrottendem Plastik, verfaultem Fleisch, stinkenden Fäkalien und dem Heer von Schimmelpilzen in allen Farben des Regenbogens gebildet wird. Müll, soweit das Auge reicht.
Am Horizont erheben sich majestätisch die Silhouetten der gigantischen Wolkenkratzer der Stadt gegen den Himmel, aber sie sind für uns so weit entfernt, wie der pockennarbige Mond, dessen kaltes Licht diesen Ort oft genug wie die Oberfläche eines unvorstellbar weit entfernten, fremden Planeten erscheinen lässt.
Hier und dort ragen Inseln aus diesem tristen Ozean auf, bei denen es sich fast immer um notdürftige Verschläge und Unterkünfte aus Wellblech, Holz und Erde handelt, die von den Schiffbrüchigen dieses Meeres mehr oder weniger geschickt zusammengezimmert wurden, um den meistens feindlichen Wetterverhältnissen trotzen zu können.
Wir alle, die wir hier gestrandet sind, haben die Stadt und ihre Gesetze hinter uns gelassen. Es gibt keine Hoffnung auf Rückkehr, und wer es noch nicht wusste, als er herkam, der weiß es, nachdem er es geschafft hat, die ersten Monate zu überstehen.
Ich bin schon lange hier, und ich kenne mich bestens aus. Nur wer die ersten beiden Jahre auf diesem Ozean überlebt, der kann davon sprechen, hier eine wirkliche Chance zu besitzen. Lehrjahre sind keine Herrenjahre heißt es normalerweise. Die Jahre, die man hier verbringt, sind allesamt Lehrjahre, von denen die beiden Ersten die Härtesten und Gefährlichsten sind. Diejenigen, die ihre Prüfungen nicht bestehen (und davon habe ich viele gesehen), sterben an Hunger, Vergiftungen, Erfrierungen, Mangelerscheinungen oder werden im Schlaf von den Ratten gefressen.
Oder sie bringen sich um.
Oder sie werden von zweibeinigen Räubern umgebracht, die sich nicht darauf einlassen, ihre Vorräte selbst zu suchen.
Doch in erster Linie wird hier an Hunger gestorben.
Während ich mich nun bedächtig durch den Abfall bewege, huscht mein Blick von links nach rechts und von rechts nach links. Immer hin und her, hin und her. Meine Augen sind geübt im Aufspüren von Nahrung, und ich muss mich beeilen, denn es wird rasch kälter. Mit der Kälte wird wieder der Schnee kommen, und diesmal wird sich eine blütenweiße Decke über das Meer des Mülls senken, was ich in den restlichen Fingerknochen meiner rechten Hand fühlen kann.
Ich muss mir einen Vorrat an Essbarem zulegen, der mich wenigstens über die nächsten drei Tage bringt. In drei Tagen kommen dann wieder die großen Raupenfahrzeuge aus der Stadt und laden zum letzten Mal vor Heiligabend kostbaren Nachschub ab.
Der Ozean wächst.
Die Schuhe, die ich mir aus alten Autoreifen selbst angefertigt habe, verhindern, dass Glasscherben und scharfkantige Metallteile sich durch meine Fußsohlen bohren. Allerdings glaube ich, dass die panzerartige Hornhaut, die sich an meinen Füßen in all den Jahren gebildet hat, ohnehin das Schlimmste verhindern würde.
Ich finde einige Konservendosen, die ich gestern wohl übersehen habe. Der verbliebene Inhalt wird mich zumindest über den heutigen Tag bringen.
Aber das darf noch nicht alles gewesen sein.
Ich gehe weiter und schaue mich um, links und rechts, links und rechts.
Da, ein Glücksfall. Zwei halb volle Flaschen inzwischen wohl gegorener Milch und gleich daneben ein Viertellaib Brot. Zwar fast gänzlich verschimmelt, aber immerhin Brot. Einen Meter weiter liegen zwei Scheiben
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