Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
vergoldetes Blech, das nicht mehr wert ist, als der Boden, auf dem der Leichnam liegt. Ihre aufgerissenen grünen Augen (Angst? Schrecken? Oder hatte sie in den letzten Sekunden ihres Lebens einfach nur Überraschung verspürt?) starren den nun immer dichter fallenden Schneeflocken entgegen.
Innerhalb weniger Sekunden ist ihr linkes Auge unter einer weißen Decke verschwunden, während das andere unbeirrt in den Himmel blickt. Ihr halb geöffneter, von dunkelrotem Lippenstift gefärbter Mund, aus dem makellos weiße Zähne hervorschauen, scheint einen Namen oder einen leisen Schrei zu formen, der jedoch für meine Ohren unhörbar bleiben wird.
Langsam richte ich mich wieder auf.
Ihrer Aufmachung nach zu urteilen war sie wahrscheinlich eine Prostituierte, und irgendjemand, vielleicht ein psychopathischer Freier oder ihr unzufriedener Zuhälter, hat ihr wohl die Hände um den schlanken Hals gelegt und sie erwürgt. Davon zeugen noch die deutlich sichtbaren Würgemale an ihrer Kehle.
Hier wird sie keiner suchen, und deswegen wird sie auch von der Polizei nicht gefunden werden. Sie wird die Hauptrolle in einer Vermisstenmeldung spielen, und diese wird den zahllosen unerledigten Fällen beigefügt werden, die sich bereits in den Kellern der Polizeizentrale turmhoch stapeln.
Als ich noch in der Stadt gelebt habe, sind täglich Menschen verschwunden, von denen kaum jemand je wieder aufgetaucht ist. Und wenn, dann tot in neun von zehn Fällen. Ich bezweifle, dass sich in der Zwischenzeit an dieser Statistik etwas geändert hat.
Nun treibt sie also auf dem Ozean des Mülls, der sie bald vollkommen bedecken wird, und wenn überhaupt, dann werden ihre Gebeine erst wieder zum Vorschein kommen, wenn die Stadt, dieses Krebsgeschwür, bis zu dieser Stelle gewachsen ist.
Sehr lange kann sie hier noch nicht liegen, denn die Leiche ist noch in gutem Zustand, wenn man das so ausdrücken mag.
Die einzigen Kleidungsstücke, die an der Toten noch zu sehen sind, bestehen aus einem Paar löchriger, schwarzer Netzstrümpfe und einem roten Lacklederstiefel, in dem ihr linker Fuß steckt.
Wie lange habe ich keine Frau mehr in den Armen gehalten? Nun, es ist schon so lange her, dass es vielleicht nie stattgefunden hat, aber der Anblick des toten Mädchens trägt nicht gerade dazu bei, irgendein Verlangen dieser Art in mir wachzurufen.
Ich beuge mich nochmals zu ihr hinunter, wische den pulvrigen Schnee aus ihrem Gesicht und möchte ihr mit meinen drei noch verbliebenen schwieligen Fingern der rechten Hand die Augen schließen. Es ist nicht möglich, denn die Lider der bereits steif gefrorenen Frau lassen sich nicht mehr bewegen. Sie ist zu einem Tropfen des Ozeans geworden, dessen Wellen auch mich irgendwann einmal überspülen werden.
Vierter Tag
Der Schnee liegt nun einen halben Meter hoch.
Nichts auf der Welt kann mich dazu bewegen, meine Hütte zu verlassen. Bis morgen früh muss mein Nahrungsvorrat noch ausreichen, denn dann kommen endlich die großen Raupenfahrzeuge.
Ich schaue durch die Fensteröffnung, die ich in das Wellblech geschnitten habe, und beobachte den Schnee, der sich wie eine unermessliche Invasion weißer Raumschiffe herabsenkt, die sich wiederum bei ihrer Landung in ein ebenso unermessliches weißes Bettlaken verwandeln.
Fünfter Tag
Die städtischen Raupenfahrzeuge sind nicht gekommen. Es ist zwar erst Mittag, aber wenn die Fahrzeuge kommen, dann kommen sie am frühen Morgen.
Niemals später.
Es ist das erste Mal, dass sie nicht an dem Tag erschienen sind, an dem sie erwartet wurden. Was nichts Gutes bedeuten kann.
Der Schnee stellt für die gigantischen Mülltransporter kein Hindernis dar. Daran kann es keinesfalls gelegen haben, dass wir heute Morgen alle umsonst gewartet haben.
Gerüchte sind im Umlauf, dass die Fahrzeuge von nun an woanders hinfahren.
Dass sie ihre wertvolle Fracht auf eine neu errichtete Halde abladen.
Dieser Gedanke erschreckt mich zutiefst. Wenn es stimmt, dann bedeutet das für die meisten von uns das Todesurteil. Wahrscheinlich für uns alle. Einige haben die Hoffnung geäußert, dass die Fahrzeuge vielleicht morgen noch kommen, aber ich glaube nicht daran, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche.
Meine Vorräte sind gänzlich aufgebraucht. Der Hunger wandert in meinem Magen auf und ab, wie ein in einem Käfig eingeschlossenes Raubtier. Knurrend und missgelaunt.
Oft genug habe ich Schwächeanfälle, da ich sowieso aufgrund des immer kleiner werdenden Angebots
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