Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
Käse. Während ich ihn hastig aufsammle und dabei mein Glück kaum fassen kann, erspähe ich einen nicht vollständig leer gegessenen Becher Joghurt. Zweifellos die Reste eines Frühstücks zu zweit, schätzungsweise vor einer knappen Woche im Müllschlucker eines Appartements in einem besseren Teil der Stadt gelandet. Nur Leute, die dort wohnen, leisten es sich, so verschwenderisch mit ihrer Nahrung umzugehen.
Ich stelle mir nun eine attraktive Frau vor, die dieses Frühstück in einer modernen Küche zubereitet, nachdem sie die Rollläden des Schlafzimmers hochgezogen hat, um die hellen Strahlen der morgendlichen Wintersonne einzulassen. Die Sonne, die jetzt ihren Mann weckt, der mit seiner gut bezahlten Arbeit dafür sorgt, dass sie beide ein angenehmes Leben führen können.
In der Stadt.
Ich inspiziere meine neuen Schätze. Für den heutigen Tag bedeuten sie eine gewaltige Ausbeute, die reichen muss.
Wieder tanzen einzelne Schneeflocken vor meinen Augen, aber sie werden rasch zu einem dichten Vorhang, der meine dunklen Ahnungen wahr werden lässt. Der Himmel ist nun in ein trübes, schwermütiges Grau getaucht, ein ausgesprochen trister Nachmittag im Dezember, dem der niedergehende Schnee die Luft zum Atmen raubt.
Von der hell strahlenden Wintersonne, die ich mir noch eben vorgestellt hatte, ist nichts zu sehen. Die einzige Helligkeit scheint nun von dem weißen Niederschlag auszugehen, der mich auf andere Gedanken kommen lässt.
Schon morgen werde ich Schneeschuhe benötigen.
Jedes Jahr baue ich mir ein Paar breiter Gleitschuhe aus dünnen Holzbrettern, die mich schneller über die weiße Wüste marschieren lassen, in die sich die Müllhalde meistens erst nach dem Neujahrstag verwandelt.
Heute werde ich außer nach Nahrung auch nach geeignetem Holz suchen.
Dritter Tag
Vor wenigen Augenblicken habe ich sie gefunden.
Zuerst bin ich an ihr sogar vorbeigegangen und habe sie nicht bemerkt. Ein Zeichen dafür, dass ich älter werde? Sehr gut möglich, früher wäre mir das möglicherweise nicht passiert, aber meine Sinne sind so sehr auf Nahrung ausgerichtet, dass ich die Leiche der Frau beim ersten Mal, als ich hier heute vorbeigekommen bin, glatt übersehen habe. Außerdem beanspruchen die neuen Schneeschuhe, die ich heute zum ersten Mal trage, ebenfalls einen Teil meiner Aufmerksamkeit.
Ein hübsches Mädchen, so um die Zwanzig. Sie hat nur wenig Kleidung am Leib, wobei der Anblick eines halb nackten, menschlichen Körpers, der von den Knien bis zu den Brustwarzen mit Schnee und Abfall zu gleichen Teilen bedeckt ist, selbst einen abgebrühten, alten Veteranen wie mich nicht ungerührt lässt.
Was kann einen Menschen dazu bewegen, einen anderen Menschen zu töten, um ihn dann anschließend auf einer Mülldeponie zu entsorgen? Ich habe hier schon einige tote Menschen gesehen, doch es waren immer welche von uns gewesen, die es eben nur nicht geschafft hatten. Oder deren Lebensuhr einfach abgelaufen war, wie sie andernorts vielleicht auch abgelaufen wäre. Wer kann das schon wissen?
Aber diese Leiche stammt nicht von hier, was mir gleich auf den ersten Blick klar wird. Dafür macht die Frau auch noch im Tode einen viel zu gepflegten Eindruck.
In der kalten Winterzeit muss man sich immer in Bewegung halten, um dem Tod durch Erfrieren zu entgehen. Einige haben sich in der Vergangenheit einfach in den Schnee zum Schlafen gelegt, um ihrem Dasein ein Ende zu bereiten, und man sagt, das sei nicht das Schlimmste, was einem auf dem Ozean des Mülls passieren kann.
Ich halte davon jedoch nichts, und daher bin ich darauf bedacht, die Gesetze des Mülls und des Winters zu beachten. Einmal hat mich ein zu langes Verweilen im Schnee ohne Handschuhe zwei Finger gekostet, denn ich hatte zu ausgiebig nach Konserven gegraben. In jenem Winter wäre ich beinahe verhungert. Seitdem bleibe ich bei solchen Temperaturen nie länger als drei Minuten an einer Stelle, sofern es sich nicht um meine eigene Behausung handelt.
Jetzt mache ich allerdings eine Ausnahme.
Ich gehe auf die Knie, damit ich den Fund besser studieren kann, und achte dabei nicht auf meine Hose, die schon gleich darauf völlig durchgeweicht ist. Mit den Händen stütze ich mich im Schnee ab, was mir ebenfalls nichts ausmacht. Ich werde der Kälte nicht genug Zeit geben, mich zum Einschlafen zu überreden.
Das Mädchen hat halblanges Haar in Form dunkler Locken, die ihr geisterhaft blasses Gesicht umrahmen. An den Ohren trägt sie billigen Modeschmuck,
Weitere Kostenlose Bücher