Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
Werbeträger vor den Kaufhäusern ihren Dienst tun.
Echte Kerzen, deren Duft sich mit dem Aroma von Tannennadeln vermischt.
Gänse, die geschlachtet werden.
Ich wende mich vom Fenster ab und schaue zwangsläufig auf die tote Frau, deren ausgefranster Armstumpf gnädig in dem Schatten, den ihr Körper bildet, verborgen liegt. Es gelingt mir nicht, den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen. Noch immer sind ihre Lippen halb geöffnet, aber spielt da jetzt etwa ein Lächeln um ihre Mundwinkel? Ist es immer noch derselbe Ausdruck, den sie hatte, als ich sie fand?
Fast zweifle ich daran, zumal ich den Eindruck habe, dass von ihren Zähnen nun viel mehr zu sehen ist.
Ich glaube jedoch, dass es an dem Temperaturwechsel liegen muss, der auf die Beschaffenheit des Gewebes unter ihrer Gesichtshaut Einfluss nimmt. Jede andere Erklärung würde mich um den Verstand bringen, denn jetzt bin ich mir plötzlich ganz sicher, dass sie lächelt.
Wenn sie mich doch nur hören könnte. Ich verspüre auf einmal Trauer darüber, dass ich ihr nicht erklären kann, warum ich es tun musste.
Trauer darüber, dass ich keine Absolution von ihr erhalten kann, die mir möglicherweise die Albträume, die mich nun bis zu meinem Lebensende verfolgen werden, vom Leibe halten würde.
Trauer darüber, dass ich nie ihre Stimme gehört habe.
Und dass sie meine Entschuldigung niemals hören wird, zumindest nicht in dieser Welt.
Ich werde mich bald um sie kümmern müssen, sonst verdirbt sie.
Unterdessen steigt von dem primitiven Grill der scharfe, vertraute und auf eine bestimmte Weise doch fremdartige Geruch von angebratenem Fleisch in meine Nase. Gegen meinen Willen läuft mir das Wasser im Munde zusammen, nachdem ich rasch zum Feuer gelaufen bin, um das Fleischstück ein wenig zu drehen. Fasziniert starre ich auf die kleine Rose auf der Hand, als ob ich jeden Moment erwarten würde, dass sie durch die Hitze ihre zarten, filigranen Blätter verliert. Tatsächlich verändert sich die Tätowierung nun, da sie direkt der aufsteigenden Glut ausgesetzt ist. Die Haut, die an manchen Stellen aufgeplatzt ist und kleinere Mengen Fett in das Feuer tropfen lässt, nimmt eine bräunliche Färbung an, die den Farben der Rose den Garaus macht.
Noch bevor das Fleisch vollständig durchgebraten sein kann, verliere ich die Geduld. Mit einer hektischen Bewegung nehme ich es herunter, schließe die Augen (damit mich die gespreizten Finger nicht andauernd daran erinnern können, was genau ich auf dem Feuer gehabt habe) und beiße gierig hinein. Ich verbrenne mir fürchterlich den Mund, doch das ist ein kleiner Preis für das unbeschreibliche Gefühl, nach tausend oder mehr Jahren wieder Fleisch zwischen den Zähnen zu haben und dem Gaumen zuzuführen. Stellenweise ist meine Mahlzeit noch roh, aber ich falle darüber her, ohne das Fleisch auch nur einmal mehr als fünf Zentimeter von meinen Lippen wegzubewegen.
Erst als der Unterarm an einer Stelle rundherum bis auf Elle und Speiche abgenagt ist, lasse ich die Hände sinken und werde mir zum ersten Mal darüber klar, zu was ich geworden bin.
Zu einem Kannibalen.
Ich fühle mich besser.
Ich merke, wie ich langsam wieder zu Kräften komme, wobei ich nicht vergesse, wie nahe ich am Abgrund gestanden habe.
Als ich mich schließlich in der Lage dazu fühle, ziehe ich die Leiche wieder in das Schneegestöber hinaus. Diese Arbeit fällt mir jetzt wesentlich leichter als gestern, und ich schwöre mir in diesem Moment, dass ich es nie wieder zulassen werde, so kurz vor dem Verhungern zu stehen.
Nachdem ich die Frau direkt neben meiner Hütte dem konservierenden Schnee überlassen habe und wieder an mein Feuer zurückgekehrt bin, wo ich in einer Blechdose eine Handvoll Schnee zu köstlichem Trinkwasser werden lasse, fange ich an, mir Gedanken über die weitere Zukunft zu machen.
Der Schnee fällt unablässig. Diese Weihnacht ist wahrhaftig weiß, so weiß, wie ich es selbst in meiner Kindheit nie erlebt habe. Erfahrungsgemäß schneit es auch im Januar und oft genug auch noch im Februar. Bis der Schnee wieder verschwunden ist und es wieder möglich sein wird, Nahrung zu sammeln, kann es durchaus März oder April werden, je nachdem, wie grimmig dieser Winter sich noch zeigen wird.
Bis jetzt sieht es so aus, dass er nicht nur grimmige, sondern mörderisch wütende Züge annehmen wird, was mich nicht gerade beruhigt.
Obwohl ich im Moment gerade von einem behaglichen Gefühl vom Mittelpunkt meines Körpers heraus erwärmt
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