Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
dünnen Holzbrett wegzuschaufeln. Die Arbeit lässt mich einen mittelschweren Schwächeanfall erleiden, aber ich werde sofort entschädigt.
Aus dem Schnee ragt auf einmal der rote Lacklederstiefel heraus. Hastig schaufle ich weiter und lege den Leichnam der jungen Frau frei, die mich schon bis in meine Träume verfolgt hat. Je mehr von dem Mädchen zum Vorschein kommt, desto langsamer werden meine Bewegungen.
Du musst es tun , hallt es durch meinen Kopf, wie von einer alten Schallplatte, die durch einen Kratzer zur endlosen Wiederholung des Satzes verdammt ist.
Ich muss es tun. Wenn ich überleben möchte, dann muss ich es wirklich und wahrhaftig tun. Zur Bestätigung lässt mich ein weiterer Krampf beinahe wie ein Taschenmesser zusammenklappen, und beinahe falle ich der Länge nach auf die Leiche.
Doch ich bekomme mich gerade noch rechtzeitig unter Kontrolle. Der fürchterliche Schmerz ebbt wie alle seine bisherigen Vorgänger wieder ab, aber die Pausen zwischen den Krämpfen werden allmählich kürzer.
Ich überwinde mich dazu, endlich ans Werk zu gehen. Widerwillig packe ich das Bein mit dem Stiefel und ziehe so kräftig daran, wie es mein erbärmlicher Zustand erlaubt.
Nichts passiert.
Zuerst denke ich, dass es mir nicht gelingen wird, den festgefrorenen Körper auch nur einen Zentimeter weit zu bewegen. Schließlich ertönt ein lautes Knirschen und Knacken, und die Leiche löst sich träge vom Boden. Ich stelle mir erschaudernd vor, wie sich vielleicht gerade eine große Glasscherbe oder eine Konservendose mit scharfem Rand in ihren Rücken bohrt, die Haut aufplatzen lässt und den Körper wieder am Boden festhakt, aber ich ermahne mich, an so etwas nicht zu denken.
Sonst verlässt mich am Ende der Mut.
Ich ziehe und gehe dabei langsam rückwärts. Es ist das gleiche Gefühl, als würde ich einen fünfzig Kilo schweren toten Ast durch den Schnee schleifen. Gehorsam folgt mir der starre Körper Meter um Meter zu meiner Behausung, in deren Türöffnung ich mich zitternd vor Schwäche und Erschöpfung einfach niederfallen lasse. Mein Herz rast und stolpert mit unregelmäßigen Sprüngen durch meine Brust.
Erschrocken stelle ich fest, dass dies nicht nur eine Reaktion auf die große Anstrengung ist. Der Hauptgrund für das Herzklopfen ist die frohe Erwartung. Ähnlich, wie bei einem Kind, das nur noch wenige Sekunden warten muss, bis es unter dem Weihnachtsbaum die Geschenke auspacken darf.
Oder wie bei einem Hund, dem der Speichel von den Lefzen tropft, wenn er nach langer Zeit der Entbehrung endlich einen gefüllten Futternapf sieht.
Nur langsam beruhigt sich mein Herzschlag wieder. Die Sonne hat ihren Zenit schon lange überschritten und ist bereits dabei, in den Westen hinabzusinken, da gelingt es mir endlich, wieder auf die Beine zu kommen.
Erneut packe ich die Leiche (diesmal am Knöchel des freien Fußes) und ziehe sie vollständig in meine Hütte hinein. Noch immer liegt auf dem hübschen Gesicht der gleiche, schwer zu deutende Ausdruck. Er scheint durch Eis und Schnee bis in alle Ewigkeit festgehalten worden zu sein.
Fast zu spät bemerke ich, dass das Feuer am Ausgehen ist. Hastig werfe ich ein Holzscheit nach und puste in die Glut, um die Flammen wieder zu alter Stärke zurückzuführen. Das Feuer muss brennen, denn es ist Hitze nötig, um die hart gefrorene Leiche aufzutauen.
Während des Pustens wird mir schwarz vor Augen, und als ich sicher bin, das Feuer einstweilen gerettet zu haben, lasse ich mich einfach auf den festgetretenen, weitgehend vom Müll befreiten Untergrund sinken. Dort schlafe ich augenblicklich ein und teile mir den Boden mit einer Frau, die mich niemals gesehen hat, obwohl mich ihre starren, grünen Augen anblicken.
Mein Schlaf dauert nicht lange, denn zum Schlafen bin ich zu aufgeregt. Mein eigener Herzschlag weckt mich. Außerdem fühle ich eine Krankheit nahen, vielleicht eine Grippe. Mir ist heiß, und ich habe Gliederschmerzen.
Ich prüfe den Zustand des Leichnams und beschließe, ihn noch näher ans Feuer zu ziehen, denn der Körper ist noch immer steinhart.
Nachdem dies getan ist (und ich einen weiteren, ausgesprochen unangenehmen Magenkrampf habe über mich ergehen lassen müssen), sehe ich meine wenigen Habseligkeiten durch und ziehe den wertvollsten Gegenstand hervor, den ich außer meiner warmen Kleidung und den Schneeschuhen noch besitze: ein Rasiermesser.
Morgen ist Weihnachten.
Neunter Tag
Der 24. Dezember wird von dem heiseren Geschrei
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