Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
werde, was meine düsteren Prognosen abzuschwächen versucht.
Nach dem zweiten Schluck Wasser, dessen Geschmack es mit dem Ersten schon nicht mehr aufnehmen kann, stelle ich mich widerstrebend der Gewissheit, dass ich das Fleisch, welches draußen unter der Schneedecke bereits wieder hart geworden sein dürfte, schon sehr bald aufgebraucht haben werde. Mit jedem Auftauen wird die Haltbarkeit drastisch verringert. Schon beim erneuten Vergraben der Leiche im Schnee ist mir aufgefallen, dass sich ihre Lippen etwas zurückgezogen haben, wobei ihre Zähne noch mehr zum Vorschein gekommen sind. Das Lächeln ist somit zu der Parodie eines Lächelns geworden.
Wer weiß, wie das Lächeln nach dem nächsten Auftauen aussehen wird.
Aber ich will überleben, ich möchte auch das nächste Weihnachtsfest feiern, wenn möglich, auch noch das Darauffolgende.
Selbst dann, wenn die Stadt beschließen sollte, den Schiffbrüchigen, die hier auf dem Ozean treiben, ihr wurmstichiges Boot untergehen zu lassen, indem sie die ohnehin kargen Weidegründe an einen unerreichbar scheinenden Ort verlagert.
Ich werde die Kraft haben, diesen Ort zu erreichen, und wenn ich es mir recht überlege, dann brauche ich vielleicht gar nicht bis dorthin zu gehen.
Vielleicht.
Vielleicht habe ich eine Möglichkeit gefunden, auf eine andere Weise von der Stadt zu leben, als ich es bisher getan habe.
Ich öffne die Tür und werfe den abgenagten Unterarm der namenlosen Hure hinaus in den Schnee, wobei sich mir eine bedrückende Vision von einem Haufen bleicher, säuberlich vom Fleisch befreiter Gebeine aufdrängt.
Eine Vision, die ich jedoch gleich wieder verscheuche.
Im Frühling, wenn der Schnee verschwunden ist, werde ich die Knochen im Müll vergraben. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.
Doch bis dahin ist es noch lange hin, und ich werde entsprechend vorsorgen müssen.
Ich muss mir einen Vorrat anlegen. Daran ändert sich nie etwas.
Es ist nun Abend, und das Schneien hat aufgehört. Ich sehe es als ein Zeichen an.
Nachdem ich meine Schneeschuhe übergezogen und meine wärmsten Kleidungsstücke angelegt habe, stecke ich das Rasiermesser ein, öffne die Tür und trete in die Kälte hinaus. Die in ihren Hütten Erfrorenen werden den Anfang machen. Sie interessieren sich nicht mehr dafür, auf welche Art sie dem Ozean des Mülls übergeben werden.
Und dann ... dann werde ich nichts anderes tun, als das, was den Jäger vom Sammler unterscheidet. Ob hier oder in der Stadt, es ist mir einerlei. Ich werde nie wieder sammeln, denn ich werde von jetzt an jagen, wobei sich mein Jagdrevier soweit erstreckt, wie meine Augen sehen können.
Schwer atmend stapfe ich durch den Schnee in die Richtung der nächstgelegenen Nachbarhütte, die in der weißen, mondbeschienenen Endlosigkeit nur von dem geübten Beobachter gesehen werden kann. Dabei bin ich zum ersten Mal seit langer Zeit guten Mutes, wobei mir auffällt, dass der beschwerliche Weg dorthin mich gleichzeitig dem Lichtermeer der Stadt entgegenführt, die heute Weihnachten feiert.
E N D E
zum Inhalt
4
Das Mädchen aus Kohle
*
Tagebucheintrag von Jens Bartelmann
Hamburg, 15. Januar
Was heute geschehen ist, lässt sich nur schwer mit wenigen Worten zum Ausdruck bringen. Tatsächlich stand ich vor der gesamten Klasse als Idiot da und wurde von Professor Tolke, der in diesem Semester den Kurs für Aktzeichnen leitet (leider), auch als solcher behandelt. Mit seinem bornierten Gehabe hielt dieser kleine, glatzköpfige Wichtigtuer meine Arbeit in die Höhe, damit sie für jedermann sichtbar war. Dann rief er in die Runde, dass diejenige Person, die auf diesem Phantombild zu sehen sei, doch bitte einmal die Hand heben wolle .
Er selbst könne die nur mäßig gut gezeichnete Schönheit beim besten Willen nicht in diesem Raum ausmachen, aber er räume wohl ein, dass es um seine Sehkraft mittlerweile nicht mehr allzu gut stände.
Während er dies mit seiner krähenden Fistelstimme verlauten ließ, log Tolke zweimal. Zum einen war das Porträt durchaus nicht nur mäßig gut gezeichnet, sondern in aller Bescheidenheit, einfach erstklassig ausgeführt.
Zum anderen hat Tolke die Augen eines Falken. Ihm entgeht nichts.
Die Studenten der ersten beiden Semester sehen in Tolke eine gottgleiche und solchermaßen verehrungswürdige Person, während ich darüber glücklicherweise schon längst hinaus bin. Vielleicht diene ich gerade deswegen dem großen Professor Tolke mit hübscher Regelmäßigkeit als Ziel
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