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Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)

Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)

Titel: Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Keiser
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seiner weibisch boshaften Spitzen und Sticheleien.
    Wie auch immer, zu meinem größten Bedauern muss ich zugeben, dass die heutige Abfuhr nicht völlig unberechtigt war, und meine Künstlerehre, die ich nach nunmehr acht Semestern intensiven Kunststudiums wohl endlich besitze, ist angekratzt.
    Heute Abend ging es nicht darum, mit einem Stück Kohle irgendein hübsches Gesicht auf das Papier zu zaubern.
    Die allgemeine Aufgabe bestand vielmehr darin, die nächstsitzende Person so zu porträtieren, dass man anhand der Zeichnung das Modell sofort erkennen würde.
    Dass es überhaupt zu dieser Aufgabenstellung kam, hatten wir allein der kurzfristigen Krankmeldung unseres Aktmodells für den heutigen Abend zu verdanken.
    Es war dann kein passender Ersatz zu finden gewesen, was wohl nicht zuletzt am Ausfall der Heizung im großen Aktzeichensaal gelegen hatte. Wer möchte schon gerne seinen blau gefrorenen Hintern anderthalb Stunden lang zur Schau stellen?
    Nun muss ich feststellen, dass das Antlitz von Maria Kuntze , der Mitschülerin, die zu porträtieren meine Aufgabe gewesen war, durchaus Ähnlichkeit mit dem zuletzt genannten Körperteil hat, und so wurde ich im Kurs aufgrund meiner Fehlleistung (völlig zu Unrecht) lautstark als Chauvinist geächtet.
    Weil man das Papier, auf dem ich ein wunderschönes Mädchen verewigt hatte, als zynische Beleidigung in Richtung Maria wertete.
    Hier sind wohl Ihre Fantasien mit Ihnen durchgegangen, mein lieber Herr Bartelmann, oder wie sonst darf ich dieses Meisterwerk sonst interpretieren , sagte Tolke, während er mir das Blatt zurückgab.
    Tatsächlich hatte ich meinem Modell blonde, lange Haare angedichtet, während die dicke Maria ihr schwarzes Haar bereits seit einiger Zeit kurz geschnitten trägt. Ihre immerwährend roten Pausbacken hatte ich durch eine ebenmäßige, dreieckige Gesichtsform mit hohen Wangenknochen ersetzt, und so weiter (selbstverständlich hatte ich auch das unappetitliche Muttermal an ihrem Doppelkinn ausgespart, aus dem schon immer drei oder vier kräftige Borsten in der Farbe ihres Kopfhaares sprossen).
    Kurzum, ich hatte eine dieser süßen Barbiepuppen gezeichnet.
    Diese Mädchen eben, wie sie normalerweise bei Fernsehübertragungen amerikanischer Footballspiele als Cheerleader am Spielfeldrand zu beobachten sind.
    Als Tolke das Blatt hochgehalten hatte, war die arme Maria Kuntze den Tränen nahe gewesen, aber in diesem Moment hatte ich wohl mit mir selbst mehr Mitleid gehabt, als mit ihr.
    Was war nur in mich gefahren, dass ich jenes Mädchen auf dem Papier entstehen ließ, dessen Gesicht sich mir beim Zeichnen aufgedrängt hatte, wie ein Mensch, der mich solange bittet, ihm einen Gefallen zu tun, bis ich nicht mehr Nein sagen kann?
    Ich weiß es nicht.
    Aber ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, das ich während des Zeichnens gehabt hatte. Mir war so gewesen, als würde ich dieses Mädchen tatsächlich erschaffen. Als würde ich es wahrhaftig zum Leben erwecken. Dieses Gefühl ging weit über die Befriedigung hinaus, die mir der Abschluss einer guten Arbeit normalerweise verschafft. Und wenn ich ehrlich bin, dann muss ich sagen, dass es noch immer anhält.
    Ich halte das Porträt, das sich jetzt in meiner Mappe befindet, für die beste Zeichnung, die ich bisher angefertigt habe.
    Dallas, Texas, 15. Januar
    12.48 Uhr
    „Gwen, der Doktor ist am Apparat. Er sagt ... er sagt, Sharon ist aufgewacht.“
    Frank Lawford war fassungslos vor Glück.
    Seine Frau Gwen, die in der Küche das Geschirr aus der Spülmaschine holte, vergaß auf einmal völlig, was sie gerade tat und ließ den Teller, den sie in der Hand hatte, auf die Erde fallen. Er zersprang klirrend in tausend Stücke, doch sie hörte es kaum.
    Heute war Sharons Geburtstag, und bis eben, zu dieser Sekunde, war es der wohl traurigste Tag in Gwens Leben überhaupt gewesen. Daran hatte auch Frank nichts ändern können, der sich für heute extra freigenommen hatte, damit sie mit ihren schwermütigen Gedanken nicht allein war.
    Aber nun setzte ihr Herz vor Freude einen oder gar zwei Schläge aus. Scherben bringen Glück, ging es Gwen kurz durch den Kopf, bevor ihr das gesamte Ausmaß der Botschaft klar wurde.
    Ihre Tochter Sharon war an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag aus einem knapp sechsmonatigen Koma wieder erwacht.
    Tagebucheintrag von Jens Bartelmann
    Hamburg, 16. Januar
    Heute hatte ich einen heftigen Streit mit meiner Freundin Susanne. Hätte ich ihr nicht schon vor einiger Zeit den

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