Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
wieder allein ließ), übertraf unser Gespräch wohl noch an Lautstärke.
Dallas, Texas, 15. Januar
13.34 Uhr
„Mr. und Mrs. Lawford ... bei aller Freude muss ich Ihnen jetzt leider noch etwas sagen.“
Frank und Gwen Lawford befanden im achten Stockwerk des Dallas Medical Centers und standen Dr. Frederick Walken gegenüber, der während der vergangenen fünfundzwanzig Wochen alle erdenklichen Anstrengungen unternommen hatte, Sharon wieder zu Bewusstsein kommen zu lassen.
„Was ... was denn?“, fragte Gwen mit zitternder Stimme. „Ist sie etwa wieder ...?“
„Nein, sie ist bei Bewusstsein“, versicherte ihr Dr. Walken. „Aber Ihre Tochter ist blind.“
„Sie ist blind?“ Frank spürte, wie seine Knie weich wurden. „Aber ... aber ...“
„Nun, wir tun natürlich alles, damit Sharon wieder sehen kann, aber im Moment stehen wir noch vor einem Rätsel.“
Dr. Walken zögerte kurz, bevor er fortfuhr.
„Genauso wenig sind uns die Umstände klar, die zu Sharons Erwachen geführt haben. Heute Morgen wachte sie auf - einfach so.“
Der Arzt unterstrich seine letzte Ausführung mit einem Fingerschnippen.
Können wir zu ihr?“ erkundigte sich Gwen.
„Ihre Tochter hat noch Schwierigkeiten mit dem Zuordnen. Sie können zu ihr ins Zimmer, aber erwarten Sie bitte nicht zu viel. Sharon lag nach ihrem Motorradunfall fast ein halbes Jahr lang im Koma, und nach einer solchen Zeitspanne muss man Schädigungen des Gehirns leider einkalkulieren.“
„Kann sie sprechen?“, flüsterte Frank und knetete dabei ein bereits völlig durchweichtes Papiertaschentuch in seiner Hand.
„Glücklicherweise scheint ihr Sprachzentrum nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Sie spricht sehr langsam aber verständlich, was nach dieser langen Zeit bereits als großer Erfolg zu werten ist.“
Er machte eine kurze Pause, bevor er sagte: „Als sie feststellte, dass sie nicht sehen kann, war sie außer sich vor Angst und schrie. Wir mussten ihr ein starkes Beruhigungsmittel verabreichen. Wenn Sie ihre Tochter nun gleich ansprechen, gehen Sie bitte behutsam vor und seien Sie auf alle möglichen Reaktionen gefasst.“
Mit diesen Worten öffnete Dr. Walken die Tür zu dem Zimmer, das Sharon seit ihrer Einlieferung für sich allein gehabt hatte.
Und ihre Eltern traten ein, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren.
Tagebucheintrag von Jens Bartelmann
Hamburg, 17. Januar
Auch heute bin ich nicht in der Akademie gewesen. Nicht wegen Krankheit oder gar aus Faulheit, sondern wegen dem Porträt.
In meinem Leben gibt es derzeit Veränderungen von großer Tragweite, und da darf ich meine Zeit nicht mit langweiligen Kursen vergeuden. Außerdem kann ich die Gesichter meiner Mitschüler nicht mehr ertragen. Sie gehen mir allesamt auf die Nerven.
Besonders Maria Kuntze möchte ich nach Möglichkeit nicht so bald wieder über den Weg laufen, ganz zu schweigen von Professor Tolke, der sich seinen Bleistift (Stärke H4), mit dem er andauernd demütigende Korrekturen vorzunehmen pflegt, von mir aus dorthin stecken kann, wo die Sonne niemals scheint.
Als Erstes rief ich heute Morgen Susanne an ihrem Arbeitsplatz an (nicht die feine Art, ich weiß) und teilte ihr mit, dass ich mich von ihr trennen würde. Bevor sie in Tränen ausbrechen konnte, legte ich auf.
Das war geschafft. Nach einer ausgiebigen Dusche zog ich mich an (die besten Klamotten, die ich im Schrank hängen habe) und trat vor das Porträt, das noch seit gestern ausgebreitet auf meinem Arbeitstisch lag. Das Mädchen aus Kohle lächelte. Jetzt war ich mir hundertprozentig sicher, dass sich das Bild verändert hatte, und ich bildete mir sogar ein, dass das Mädchen mich sah.
Wer bist du, fragte ich in die Stille des Zimmers hinein und fuhr mit dem Zeigefinger zärtlich über die gezeichnete Wange.
Ich habe erneut einen ganzen Tag mit dem außergewöhnlichen Porträt verbracht und bin davon überzeugt, dass es irgendwo auf der Welt ein Mädchen gibt, das ich mit einem kleinen Stück Kohle zu mir geholt habe. Susanne rief noch einige Male an, ungefähr zwölf oder dreizehn Anrufe, aber zum Schluss legte ich immer sofort wieder auf, sobald ihre Stimme zu hören war. Um mir meine Nachtruhe zu sichern, habe ich vorsorglich die Telefonschnur aus der Wand gezogen, die Wohnungstür mit einer Sperrkette abgeriegelt und mir überdies auch noch Stöpsel in die Ohren gesteckt.
Susanne interessiert mich nicht mehr. Ich ärgere mich lediglich darüber, dass ich gestern versäumt
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