Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
werden.
Das alles war ihr während der Schießerei vor der kleinen Bank, die sie gerade beehrt hatten, durch den Kopf gegangen, etwa zehn Sekunden nachdem der schmächtige Cop ihr in den Arm geschossen hatte, und fünf Sekunden, bevor Dereks Leben zu Ende gewesen war.
Der Name des Kaffs, in dem dieser letzte Bankraub stattgefunden hatte, war ihr schon lange entfallen.
Billie-Jane legte den Brief achtlos auf den Pappteller. Die eingetrockneten Ketchupreste stimmten mit der Farbe der Tinte überraschend genau überein, doch Billie-Jane hatte es sich schon seit Jahren abgewöhnt, auf solche Feinheiten zu achten.
Sie erhob sich mit knackenden Gelenken vom Fußboden und ging langsam zu dem einzigen Fenster des Zimmers, das ihr, obwohl die Scheiben vor Schmutz starrten, den Blick auf die Straße und den Hauseingang gewährte. Aus der Gesäßtasche ihrer in gleichem Maße verdreckten Jeans fingerte sie eine zerknüllte Packung Zigaretten hervor, die auf den ersten Blick leer zu sein schien. Sie wollte sie schon zu dem übrigen Abfall auf den Boden werfen, als sie sah, dass doch noch eine Zigarette übrig geblieben war. Gedankenverloren steckte Billie-Jane sie sich in den Mund, vergaß jedoch, sie anzuzünden.
So stand sie am Fenster, blickte auf die Straße und war dabei so abwesend, dass sie noch nicht einmal bemerkte, dass jenes unbändige Verlangen, sich eine Portion guten Stoff in die Vene zu jagen, schlagartig abgeklungen war.
Was hatte sie zu verlieren?
Außer ihrem Leben, das ohnehin nichts mehr wert war? Wie hatte Derek doch gleich so treffend geschrieben? Ein Misthaufen.
Wäre es nicht am einfachsten, zu gehen? Zu Derek zu gehen, nach unten?
Endlos lange, wie es schien, stand sie da am Fenster und beobachtete die Straße.
Sie wartete.
Und dann, als es schon dunkel war, hielten drei Autos vor dem Hauseingang.
Billie-Jane beobachtete, dass aus den Wagen je ein Mann in Zivil und vier Männer mit dunklen Jacken, auf denen in weißer Schrift F.B.I zu lesen war, ausstiegen. Die Männer in den Jacken waren mit Schrotflinten bewaffnet und trugen wie die Männer in Zivil kugelsichere Westen unter ihrer Kleidung, was Billie-Jane sofort bemerkte.
Dann war es jetzt also soweit. Sie erinnerte sich ihrer Zigarette, die immer noch in ihrem Mundwinkel hing, und zündete sie sich endlich an. Es würde ihre Letzte sein, zumindest in dieser Welt.
Während sie genüsslich den Rauch inhalierte, nahm sie ihr Schulterhalfter mit dem 44er Colt Magnum von dem Haken an der Wand, legte es an und zog die Waffe, deren vertrautes Gewicht beruhigend in ihrer rechten Hand lag.
Eilige Schritte hasteten durch das Treppenhaus auf ihre Zimmertür zu. Billie-Jane konnte genau hören, wie die Männer versuchten, unnötigen Lärm beim Laufen zu vermeiden. Doch die Geräusche, die dieses Schleichen machte, wären ihrem durch die ständige Flucht geschulten Gehör wahrscheinlich eher aufgefallen, als wenn eine Horde Elefanten durch das Haus gerannt wäre. Sie konnte fast sehen, wie sich die Männer des F.B.I. hinter der Tür mit der Ramme in Stellung brachten, mit ihren Schrotflinten anlegten und darauf warteten, bis das Kommando zum Sturm der Wohnung erteilt wurde. Selbstverständlich saß sie nun in der Falle, und die Übermacht auf der anderen Seite war erdrückend, aber sie fand, dass dies die einzig würdige Art und Weise war, das letzte Kapitel zu schreiben.
Billie-Jane hob die Magnum und zielte auf die Mitte der noch geschlossenen Holztür, die für die Projektile kein Hindernis darstellen würde.
„Okay Derek, alter Junge, wir sehen uns gleich“, sagte sie leise und schoss.
E N D E
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6
Blizzard
*
Erwachen.
Das Bewusstsein wächst langsam zu einem Ding, das Empfindungen wahrnehmen kann.
Die erste Empfindung ist Schmerz .
Die Zweite ist Kälte .
Die Dritte ist Weiß .
Der Erwachende ist umgeben von kaltem Weiß, während ein loderndes Feuer in seinem Körper brennt. Jetzt kehren auch erste Bruchstücke der Erinnerung zurück, die nicht weniger schmerzhaft deutlich machen, in welchem Zustand der Hilflosigkeit er sich befindet. Das Weiß ist Schnee.
Schnee, der mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft gewirbelt wird.
Schnee, der mit rasiermesserscharfen Krallen sein ungeschütztes Gesicht zerfetzt.
Mühsam versucht der Erwachende, Einzelheiten in dem tosenden Inferno zu erkennen, doch was auch immer sich hinter der weißen Wand befinden mag, es bleibt ihm verborgen.
Dann der Schmerz.
Der Schmerz
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