Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
kommt in kurzen Abständen und nistet sich endgültig in seiner linken Körperhälfte ein. Er schaut an sich herab, und durch die umherpeitschenden Schneeflocken erkennt er den weißen Overall, mit dem er bekleidet ist. Eine Uniform.
Während der Mann sich an seine Aufgabe zu erinnern versucht, lässt ein ohrenbetäubendes Donnern die Erde erbeben. Der Wind trägt aus der Ferne ein schreckliches Brüllen heran, und der Mann fühlt sich in einen Dschungel versetzt, in dem wilde Tiere um Leben und Tod kämpfen.
Kämpfen.
Er ist Soldat, doch der Kriegsschauplatz ist ihm noch fremd.
Erneut ist Donner zu hören, diesmal in mehreren kurzen Abfolgen.
Geschützfeuer.
Der Mann möchte sich erinnern, wessen Feind er ist, aber sein Gehirn lässt es nicht zu. Er will sich bewegen, doch sofort zwingt ihn der wütend aufschreiende Schmerz dazu, in seiner Position zu verharren.
Das tierhafte Brüllen ist wieder zu hören, und diesmal hat der Mann den Eindruck, dass es deutlich nähergekommen ist. Rhythmische Erschütterungen pflanzen sich durch die Erde fort, wobei der Mann erkennt, dass es Schritte sein müssen, die in geistloser Monotonie den Boden erzittern lassen.
Das Bild einer Frau taucht blitzartig in seiner Erinnerung auf.
Seine Frau? Oder seine Tochter?
Er kann es nicht sagen.
Nicht einmal an seinen eigenen Namen kann er sich erinnern. Doch jetzt gewinnt das Bild an Schärfe, und er ist sich sicher, dass es seine Frau ist, an die er sich nun erinnert.
Seine Frau, die schon lange nicht mehr lebt.
Die mächtigen Schritte sind jetzt sehr nahe, was durch ein markerschütterndes Brüllen unterstrichen wird.
Der Mann schaut angestrengt in die Mauer aus Eis und Wind, und er sieht kurz eine gigantische Kontur, die sich majestätisch durch den Blizzard schiebt. Der Mann reibt sich den Schnee aus den Augen, aber da ist die monströse Gestalt auch schon wieder aus seinem Sichtfeld verschwunden. Sirenen singen in sehr weiter Ferne die Ouvertüre für eine Reihe von Explosionen, die gleich daraufhin erfolgen.
In der Luft ist ein insektenartiges Summen zu hören, woraufhin den Mann seinen Blick nach oben richtet. Er sieht schmale Schatten, die aber sofort wieder verschwunden sind.
Die Bomber.
Jetzt kann sich der Mann auf einmal an die Bomber erinnern, und er weiß, dass er als Pilot dieser bösartigen Hornissen zahllose Angriffe gegen einen unsichtbaren Feind geflogen ist. Bis er abgeschossen wurde.
Der Schneesturm hat an Heftigkeit zugenommen, und das Heulen des Windes vermischt sich in einer schaurigen Arie mit dem urzeitlichen Brüllen der riesigen Kreatur, deren Schritte sich allmählich wieder entfernen.
Der Mann ist nun bis zur Hüfte eingeschneit, was ihn daran hindert, sich fortzubewegen. Der Schmerz hat nun aufgehört.
Die Kälte ist einer behaglichen Wärme gewichen, und das Weiß des Schnees bedeckt jetzt seine Augen.
Noch einmal hat er das Bild seiner Frau vor Augen, und dabei sieht er auch seine zwei Kinder. Seine Familie.
Er erinnert er sich nun.
Er erinnert sich sogar an die Invasoren, gegen die er in den unendlichen Krieg gezogen war.
Während der Blizzard eine weiße Pyramide um ihn auftürmt, erinnert sich der Mann an die Maschinen der Invasoren, die ausgeschickt wurden, seine Heimat zu verbrennen. Sie kamen in riesigen Schiffen und brachten Kreaturen mit, die aus Albträumen entsprungen sein mussten.
Der Krieg dauert schon so lange, so viele Jahre, und er hat den Schnee, den Wind und das Eis mitgebracht.
Eis, das nicht einmal durch die Feuer der ewigen Schlacht zum Schmelzen gebracht werden kann.
Der Mann hört nur noch ganz entfernt das Geschützfeuer, die Bomben und die Bestien, die sich ihren Weg durch die entfesselten Elemente bahnen.
Er merkt, dass er ganz langsam wieder einschläft.
In der Nähe zerreist eine Explosion die eisige Luft, und der Mann, der sich jetzt sehr wohl fühlt, schlägt ein letztes Mal die Augen auf.
Seine Lippen formen einen Namen, aber er weiß nicht mehr, wessen Name es ist.
Er geht heim.
Er wird seine Familie treffen, schon sehr bald.
Sanft wird der Mann vom Schlaf davongetragen, und darüber ist er froh.
E N D E
zum Inhalt
7
Im Schatten des Apfelbaums
*
Bis heute kann ich mir nicht erklären, weshalb ich vor einem Jahr zum Feldweg gegangen bin, anstatt wie üblich die Hauptstraße entlangzugehen. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass die Hitze an diesem Nachmittag im August so drückend war und ich auf diese Weise bei meinem Spaziergang die
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