Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
der Blick auf etwas, was noch kommen wird, aber schon feststeht.«
»Warum bist du keine Schülerin im Haus der Seher geworden, wenn du solche Träume hattest?«
»Das war durchaus im Gespräch. Aber meine Hauptbegabung scheint das Heilen zu sein, und ich musste mich entscheiden.«
»Ich habe mich auch nicht entschieden.«
»Das mag der Weg sein, der für dich richtig ist, Gorian. Aber nicht für mich. Und davon abgesehen sind meine Ziele vielleicht auch nicht ganz so ehrgeizig wie die deinen.«
»Das wiederum habe ich mir nicht ausgesucht. Aber ich weigere mich einfach, tatenlos zuzusehen, wie alles zugrunde geht, und einzig und allein darauf zu hoffen, dass es vielleicht nicht mehr zu meinen Lebzeiten geschieht.«
Sie sah ihn an. »Es ist schlimm, was mit deinem Vater und all denen geschehen ist, die den Frostkriegern zum Opfer fielen.«
»Das ist meinetwegen passiert, Sheera. Und auch das ist etwas, was mich anspornt. Ich will diese Ausbildung so schnell wie möglich beenden, damit ich mir die Meisterringe an die Hand stecken kann.«
»Und dann?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich dann einfach in den Norden aufbrechen und die Begegnung mit Morygor suchen. Er hat die beiden Schwerter, die meinem Vater gehörten, Schattenstich und Sternenklinge. Die will ich zurückholen.«
» Zwei Schwerter – für einen Ordensmeister? Ist das nicht etwas zu viel? Mir scheint, du brauchst Bundesgenossen und Kampfgefährten. Schwerter gibt es überall.«
»Aber nicht solche Schwerter. Schwerter aus Sternenmetall, die auf ganz besondere Weise geschmiedet wurden.«
Sie seufzte. »Also als Schwertkämpferin werde ich dir nicht beistehen können. Aber wie du weißt, habe ich andere Talente. Und ich fürchte, ich werde dir damit einst zu Diensten sein müssen.«
»Du fürchtest das?« Gorian runzelte die Stirn. »Wieso das?«
»Weil es bedeutet, dass dir zuvor etwas Schlimmes zugestoßen sein wird. Etwas, das dich so schwächt, dass es dir unmöglich sein wird, dich selbst zu heilen.« Ihr Lächeln wurde verhaltener und wirkte fast etwas verlegen, als Gorian ihren Blick erwiderte.
»Du hast gesagt, unsere Schicksalslinien seien von nun an miteinander verwoben«, sagte er.
Sie nickte. »Ja, aber das war nicht ganz richtig. In Wahrheit waren sie das schon immer, auch wenn keiner von uns das geahnt haben mag.«
Der Sommer schien gar nicht enden zu wollen, und die Herbststürme, die ansonsten die ersten Schübe kalter Luft aus dem Norden brachten, ließen auf sich warten.
Es gab Neuigkeiten aus Thisilien. Hunderte von Schwertmeistern hatten dort an der Seite der kaiserlichen Ritter und Landsknechte gegen die letzten Frostkrieger gekämpft, die hier und dort noch anzutreffen gewesen waren. Diese Schwertmeister standen auf magische Weise immer mit der Ordensburg in Verbindung. Zusätzlich gab es noch eine im ganzen Reich gut funktionierende Taubenpost, sodass sich Nachrichten recht schnell verbreiteten. Das bei der Invasion zunächst eroberte Gebiet galt als befreit und der Feind als besiegt. Es gab keinen einzigen Frostkrieger mehr in Thisilien. Die Kriegsflotte unter dem Kommando des Herzogs der Axtlande hatte die Schiffe der Angreifer verfolgt, soweit dies möglich war. Bis zu den Gestaden der Torlinger Inseln und den Küsten Torheims hatte man einige von ihnen getrieben.
Der Herr der Frostfeste schien keinerlei Anstalten zu einem Gegenschlag zu unternehmen. Kaiser Corach kam dieser Erfolg – den er vor allem seinem eigenen Genie als Feldherr zuschrieb – nur allzu recht, denn er konnte ihn hervorragend dazu nutzen, seine umstrittene Position im Heiligen Reich zu festigen. Er war der vierte aufeinanderfolgende Herrscher aus dem Geschlecht der Laramonteser, und dass er es bisher nicht gewagt hatte, auf dem Heiligreichstag offiziell über die Einführung des Erbkaisertums abstimmen zu lassen, lag an den starken Rivalen, deren Widerstand er bisher zu fürchten hatte. Den Herzog von Eldosien zum Beispiel, der außerdem in Personalunion auch noch Herzog von Oquitonien und Baronea war und dadurch eine Hausmacht darstellte, die größer als die des Kaisers war, der außer dem Herzogtum Laramont nur noch das mit dem Besitz der Kaiserkrone verbundene Kronland Olanien direkt regierte.
Nun aber, nach diesem großen Erfolg, den Kaiser Corach im ganzen Reich durch Herolde und Sänger verkünden und von ihnen in den schillerndsten Farben ausschmücken ließ, konnte er vielleicht einen Versuch in diese Richtung wagen –
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