Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
durch den Kopf.
»Was willst du?«, fragte er laut, da er das Gefühl hatte, seine eigenen Gedanken auf diese Weise klarere Form geben zu können. »Warum bist du mir gefolgt – und hast mich andererseits in dem Augenblick verlassen, als ich deiner Hilfe bedurfte?«
Die Antwort bestand aus einem abermaligen Fauchen, und diesmal war es so laut und durchdringend, dass Gorian schon fürchtete, es würde jemanden aus dem Schlaf reißen. Allein die fremdartigen Gedanken dieser kleinen drachenhaften Bestie reichten vielleicht schon aus, um Meister Thondaril zu wecken, von dem man annehmen durfte, dass er unverzüglich gegen dieses Wesen vorging, so wie er es in Segantia schon einmal getan hatte. Aber das wollte Gorian im Augenblick vermeiden, um endlich mehr darüber zu erfahren, welche Ziele der Gargoyle verfolgte.
»Warum hast du mich in Segantia angegriffen?«, fragte Gorian, doch abermals bestand die Antwort in einem durchdringenden Fauchen und einem Strom wirrer Gedanken. Doch diesmal konnte Gorian immerhin einige etwas klarere Bilder in diesen Gedankenbotschaften erkennen. Da war der Tempel der Alten Götter … Frogyrr … die leblos am Boden liegenden Frostkrieger … Das alles verband sich zu einem verdichteten Bildergemenge.
»Willst du mich daran erinnern, dass du mir am Tempel der Alten Götter geholfen hast?« , dachte Gorian intensiv. » Dann entsinne dich aber auch daran, wer dich von dem Bann befreite!«
Das Fauchen, das darauf folgte, war relativ verhalten. Der Gargoyle senkte den Kopf, seine purpurfarbene, wie glühend wirkende Körperoberfläche veränderte sich erneut, und immer größere Teile davon schimmerten auf einmal grünlich.
»Mir geholfen … dir helfen … und folgen«, erreichte Gorian ein klarerer Gedanke.
Dann schwang sich Ar-Don empor und flog in die Nacht davon.
Aber Gorian war überzeugt davon, ihm nicht zum letzten Mal begegnet zu sein.
Schlaf fand er in jener Nacht nicht mehr.
Gorian wurde am nächsten Tag zu Meister Thondaril gerufen. Diesem stand aufgrund seiner zweifachen Meisterschaft sowohl im Haus des Schwertes als auch im Haus der Magie eine Meisterzelle zu, doch Thondaril nutzte nur jene im Schwert-Haus.
Dass er Gorian in seiner Meisterzelle empfing, die zwar deutlich größer als die Schülerzellen, aber mit kaum mehr Annehmlichkeiten ausgestattet war, fand Gorian etwas ungewöhnlich. Aber dann bemerkte er die Steine in jeder der vier Ecken des Raums, dessen einziger Wandschmuck aus einigen Regalen bestand. In ihnen waren Bücher und Schriftrollen eingeordnet, die sich entweder in Thondarils Privatbesitz befanden oder aber von ihm häufig gebraucht wurden.
Die Steine in den Ecken mit ihren magischen Gravuren hatten sicherlich eine ähnliche Funktion wie jene Steine, mit denen Gorians Vater seinen Hof umgrenzt hatte. Ein magischer Schutz, erkannte Gorian. Aber weshalb war der hier, auf der Ordensburg, notwendig? Er hatte bisher angenommen, dass die Magiemeister dafür Sorge trugen, dass dieser Ort ausreichend geschützt war – mindestens so gut wie Nhorich das bei seinem Hof getan hatte. Schließlich war Gorians Vater lediglich Schwertmeister gewesen und in allem, was mit der reinen Anwendung von Magie zu tun hatte, sicherlich einem ausgebildeten Magiemeister an Kenntnissen und Fähigkeiten weit unterlegen.
Oder kam die Bedrohung, vor der sich Thondaril auf diese Weise zu schützen versuchte, aus dem Inneren der Burg? Wollte er verhindern, dass seine Gespräche und Gedanken belauscht wurden?
Thondaril wies auf den einzigen Stuhl im Raum. »Setz dich, Gorian«, forderte er. »Wir haben einiges zu besprechen.«
Sein Tonfall war streng und bestimmend, und der Blick des zweifachen Ordensmeisters war noch ernster, als man es ohnehin von ihm gewohnt war.
»Du hattest Besuch.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Meint Ihr …«
»Dieses Wesen, dessen Namen du nicht aussprechen solltest!«
Gorian schluckte. Woher auch immer Thondaril davon wissen mochte, Gorian zweifelte nicht daran, dass einem Magiemeister Möglichkeiten genug zur Verfügung standen, so etwas herauszufinden. Und so hatte es kaum Sinn, vor Thondaril irgendetwas verheimlichen zu wollen.
»Er war plötzlich da«, sagte er. »Wenn er mich hätte töten wollen, hatte er zweifellos die Gelegenheit dazu.«
»Es«, sagte Thondaril korrigierend, »nicht er. Es ist ein Tier, keine Person. Ein Werkzeug, das einem abgerichteten Kampfhund gleicht, wie er bei den Zuhältern von Segantia in Mode
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