Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
hatten sich nicht bewegt. Das taten sie erst jetzt, als sie ihn anlächelte. »Wir werden immer in Verbindung sein, Gorian. Und dabei wird die Entfernung keine Rolle spielen. Und so ein billiger Seher-Trick …«
Ein Ruck durchfuhr Gorian. Er wirkte auf einmal angestrengt. Seine Augen wurden für einen kurzen Moment vollkommen schwarz, und Sheera sah ihn überrascht an. »Was ist los? Du siehst aus wie ein Tier, das Witterung aufgenommen hat?«
Gorian antwortete ihr nicht gleich und ging stattdessen zu den Zinnen, von denen man in den inneren Burghof blicken konnte. Er sah trotz Dunkelheit einen Wirbel aus schwarzem Rauch vom Hafen her zur Burg hinaufschnellen. »Da kehrt er also zurück«, murmelte er.
»Kannst du mir mal erklären, wovon du gerade sprichst?«, verlangte Sheera zu wissen. Sie war neben ihn getreten und sah angestrengt in die Dunkelheit auf der Suche nach dem, was Gorian so alarmiert haben mochte.
»Tut mir leid, ich komme dir im Moment wohl ziemlich seltsam vor.«
»Erklär es mir einfach.«
»Siehst du den schwarzen Rauch?«
»Gorian, es ist dunkel!«
»Vielleicht ist sehen auch nicht das richtige Wort. Es ist ein Schattenpfad, und ich habe inzwischen gelernt, sie zu erkennen. Und ich habe gerade bemerkt, wie Hochmeister Aberian zurückgekehrt ist. Heute Morgen brach er bei Sonnenaufgang auf, jetzt kehrt er zurück. Ich kann seinen Schattenpfad ein Stück weit verfolgen und habe erkannt, in welche Richtung er aufgebrochen ist. Es war Norden.«
»Na und? Vielleicht war seine Anwesenheit in Ameer oder auf den Mittlinger Inseln vonnöten. Ich weiß nicht, was daran so besonders sein soll.«
»Er begibt sich sehr häufig in den Norden. Und er informiert niemanden darüber. Ich habe Meister Thondaril gefragt, und er wusste auch nicht, wohin sich der Hochmeister genau begibt.«
»Muss ein Hochmeister denn jedem darüber Rechenschaft ablegen, wohin er entschwindet? Das würdest du auch nicht tun, wenn du die Schattenpfade beschreiten könntest.«
»Ich sage nur, was mir aufgefallen ist, Sheera. Hinzu kommt noch, dass er seine Pflichten als Lehrer durch seine häufigen Ausflüge vernachlässigt. Ich bin nicht der einzige Schüler im Haus der Schatten, der dieser Meinung ist.«
Der Winter kam spät in diesem Jahr und wollte gar nicht mehr enden. Ein Eissturm fegte von Ameer her über den Norden des Estlinger Landes, das Gontland und ganz Nemorien. Innerhalb von Tagen war die Ordensburg tief verschneit, und die Temperaturen sanken so sehr, dass selbst die Hartgesottensten unter den Schülern mithilfe ihrer Magie die ansonsten unerreichbaren Fensterläden ihrer Zellen schlossen. Der Wind war eisig kalt, und die Schüler verließen die Ordensburg nur wenn unbedingt nötig.
In einer dieser Nächte, in denen sich ein sternenklarer Himmel über Gontland wölbte, erwachte Gorian, vor Kälte zitternd, und stellte fest, dass der Fensterladen, den er mittels der Alten Kraft geschlossen hatte, weit offen stand.
In der hohen, glaslosen Öffnung saß ein dunkler Schatten.
Es war ein katzengroßes Wesen, das nur in Umrissen zu erkennen war. Das Mondlicht wurde von seiner Haut regelrecht verschluckt oder von was auch immer seinen Körper umgab.
Es gab ein Fauchen von sich, dann erreichte Gorian ein Schwall von Gedanken, der so wirr war, dass er nicht einem einzigen davon eine klare Bedeutung zumessen konnte. Aber das war im Augenblick auch gar nicht so wichtig, denn Gorian erkannte an der Art dieser Gedanken sofort, wessen Geist sie ihm schickte. Die Merkmale waren einfach zu charakteristisch.
»Ar-Don!«, entfuhr es ihm.
Das Wesen änderte daraufhin seine Gestalt. Es entfaltete recht große, fledermausartige Flügel, seine Färbung wandelte sich von dem extrem lichtschluckenden Schwarz in einen purpurnen Ton, und die steinerne Oberflächenstruktur des Gargoyle wurde unsichtbar. Er schien aus seinem Inneren heraus zu leuchten und hatte Ähnlichkeit mit einer glühenden Statue, deren Gestein aufgeschmolzen war, aber dennoch die Form behalten hatte.
Erneut fauchte das Wesen, und wieder erreichte Gorian ein Strom von Gedanken. Sie waren einfach zu fremdartig, als dass ein menschlicher Geist sie hätte erfassen können, aber immerhin glaubte Gorian darin so etwas wie eine tiefe innere Verbundenheit zu erkennen.
Eine Art von Verbundenheit, von der er sich jedoch nicht sicher war, ob darin eine eher freundliche oder gar eine zerstörerische Gesinnung zum Ausdruck kam.
Vielleicht beides, ging es ihm
Weitere Kostenlose Bücher